Bayern will Abschiebelager für Flüchtlinge aus dem „Westbalkan“ errichten. Gemeint sind vor allem Roma, deren Herkunftsländer Serbien, Mazedonien, Bosnien oder Albanien als „sicher“ gelten. Die SPD hält den Vorschlag der CSU für bedenkenswert und könnte ihm folgen. Dies entspricht einer gewissen sozialdemokratischen Tradition. SPD-Politiker haben schon zu Zeiten der Weimarer Republik nach bayrischem Vorbild Abschiebelager für jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa errichtet. Diese wurden offiziell „Konzentrationslager“ genannt und auf deutschem Staatsgebiet betrieben (in deutschen Kolonien auf afrikanischem Boden hatte es schon vor dem Ersten Weltkrieg „Konzentrationslager“ gegeben).
Im ausgehenden 19. Jahrhundert hatten Antisemiten die Angst vor einer mehr imaginierten als realen Masseneinwanderung osteuropäischer Juden zu schüren gewusst. Schon 1880 hatte der professorale Antisemit Heinrich von Treitschke (1834–1896) vor den Scharen „strebsamer, hosenverkaufender Jünglinge“ gewarnt, die Jahr für Jahr „über unsere Ostgrenze kommen“. Treitschke stieß bei der preußischen Regierung auf offene Ohren. So wurden allein 1885/86 etwa 15.000 jüdische und weitere 20.000 polnische Einwanderer aus Preußen ausgewiesen. Dieser erste, antisemitisch und antislawisch begründete Massenexodus führte bei den damaligen Sozialdemokraten noch zu einer empörten Reaktion. Wilhelm Liebknecht, einer der Parteigründer, sprach im Berliner Reichstag von einem „Akt der Barbarei“. Danach jedoch verlor sich die sozialdemokratische Solidarität mit den Geächteten zusehends. Die weiter betriebene Hetze gegen jüdische Einwanderer aus dem Osten wurde kaum noch wahrgenommen, geschweige denn kritisiert.
Als nach 1918 sozialdemokratische Politiker in Preußen und temporär auch im Reich an die Macht kamen, sah sich getäuscht, wer geglaubt und gehofft hatte, nun werde energisch gegen die Antisemiten in Staat und Gesellschaft vorgegangen. Stattdessen fühlte sich die SPD verpflichtet, das „Problem“ der jüdischen Migration zu lösen. So verfügte der preußische Innenminister Wolfgang Heine (SPD) am 1. November 1919, die weitere Einwanderung von sogenannten Ostjuden sei durch „Sperrung der Grenzen“ zu verhindern. Dies müsse „mit Rücksicht auf die Ernährungsschwierigkeiten und die Arbeitslosigkeit im Inneren“ geschehen. Solcherart nach Panikmache klingende Rechtfertigung wirkte geradezu grotesk. Die bösen „Ostjuden“, deren Gesamtzahl auf 160.000 geschätzt wurde, konnten beim besten Willen nicht 60 Millionen Deutschen die Arbeitsplätze und ihr tägliches Brot wegnehmen. Außerdem konnte keine Rede davon sein, dass sie den Sozialhaushalt des Reichs und der Länder belasteten. In der Regel wurden sie von jüdischen Wohlfahrtsorganisationen betreut, die sich häufig um Anstellungen für jüdische Einwanderer kümmerten.
Dies war im preußischen Innenministerium durchaus bekannt, sodass nachgeordnete Behörden Order erhielten, eingewanderte jüdische Bürger zu dulden, die einer „nutzbringenden Beschäftigung“ nachgingen. Wolfgang Heines Toleranz gegenüber einigen „Ostjuden“ stieß sofort bei Oberbürgermeistern deutscher Großstädte auf Gegenwehr, die unter anderem damit begründet wurde, dass „Ostjuden“ in einen „Schleichhandel mit Wohnungen“ verwickelt seien.
Heines Nachfolger Carl Severing (SPD) legte Wert darauf, den Sorgen und Nöten der Kommunen mit Verständnis zu begegnen. Am1. Juni 1920 ordnete er an, alle „lichtscheuen Elemente“ und all jene, die „in dem dringenden Verdacht einer strafbaren Handlung“ stünden, unverzüglich abzuschieben. Offensichtlich hoffte Severing, durch dieses rechtlich äußerst fragwürdige Vorgehen den Antisemiten und Rassisten propagandistischen Wind aus den Segeln zu nehmen. Wie sich erweisen sollte, eine trügerische Hoffnung – damals wie heute.
Einer noch ganz kleinen und auf Bayern beschränkten Partei war das alles nicht genug. Die NSDAP bestand in ihrem Parteiprogramm vom 25. Februar 1920 darauf, dass alle „Nicht-Deutschen, die seit dem 2. August 1914 in Deutschland eingewandert sind, sofort zum Verlassen des Reichs gezwungen werden“. Das Ansinnen der bayrischen Nazis war der bayrischen Regierung Befehl. Sie ordnete im April 1920 die sofortige Ausweisung aller in den Freistaat eingewanderten Juden an. Bevor sie Bayern verlassen mussten, wurden die Vertriebenen noch in ein Lager – genauer ein „Konzentrationslager“ – eingewiesen, das sich in Ingolstadt befand. Eben dort, wo heutige bayrische Politiker ihr Abschiebelager für Flüchtlinge aus dem „Westbalkan“ errichten wollen.
Dass Juden in Abschiebelagern interniert wurden, fand in den Jahren der Weimarer Republik die Zustimmung breiter Kreise der Bevölkerung. Auch von vielen wohlsituierten deutschen Juden störten sich nur wenige daran, dass man „Ostjuden“ als unerwünschte Ausländer behandelte und demütigte. Letztlich richteten sich Internierung und Abschiebung – so versicherten die notorisch staatstreuen deutschen Juden – doch nur „gegen kriminelle und verdächtige Elemente“.
Wenn jüdische Gemeinden zuweilen doch zaghaft formulierte Bedenken vortrugen, hinderte das die preußischen Sozialdemokraten nicht daran, dem bayrischen Beispiel zu folgen und ab Anfang 1921 auch in ihrem Freistaat „Konzentrationslager“ haben zu wollen. Eines davon befand sich in Cottbus-Sielow, das andere in Stargard (Pommern). Die beiden seinerzeit zu Preußen gehörenden Städte waren deshalb in die engere Wahl gekommen, weil man dort auf Lager für russische Kriegsgefangene aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zurückgreifen konnte, die erst kurz zuvor – Ende 1920 – aufgelöst worden waren.
Die größtenteils noch an Ort und Stelle verbliebenen Wachmannschaften fanden eine neue Beschäftigung. Sie durften jetzt Juden bewachen. Was mit unverkennbarem Eifer geschah, wie ihn deutsche Soldaten bei derartigen Gelegenheiten zu zeigen wissen. Die wider Recht und Gesetz an diesen Internierungsorten festgehaltenen Juden wurden denkbar schlecht verpflegt und physisch misshandelt, allerdings noch nicht systematisch getötet. Wäre der Befehl dazu ergangen, hätte sich das Wachpersonal dem entzogen? Aller Voraussicht nach nicht. Für diese Annahme spricht folgende Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden: Im Juni 1921 kam es im Lager Stargard zum Brand in einer Baracke, in der sich mehrere Juden befanden. Wie häufig in solchen Fällen konnte nicht festgestellt werden, wer für das Feuer verantwortlich war. Die in der Baracke eingesperrten Juden waren es mit Sicherheit nicht. Da die Türen von außen verriegelt waren, konnten die vom Ersticken bedrohten Insassen nur durch zuvor zerschlagene Fenster ins Freie springen. Das jedoch wurde ihnen von den Wachposten schwer verübelt, sodass es Schläge und Tritte gab. Am nächsten Morgen wurde diese Tortur durch einen Feldwebel der Wachmannschaft mit der Bemerkung gerechtfertigt: „Die Juden sollen ruhig verbrennen.“
Damit ist eigentlich schon alles über diese ersten Konzentrationslager auf deutschem Boden gesagt. Nachzutragen wäre noch, dass sie erst Ende 1923 aufgelöst worden sind. Jedoch kam es dazu erst nach und wegen der Anfrage eines kommunistischen Abgeordneten im Preußischen Landtag. Der für die Errichtung der preußischen Konzentrationslager verantwortliche Carl Severing (SPD) gab im Dezember 1923 ziemlich widerwillig die Schließung des „Konzentrationslagers in Cottbus-Sielow“ bekannt, das – wie der Minister betonte – „seit langem besteht und zur Aufnahme jener Ausländer dient, die abgeschoben werden sollen, aber aus mehreren Gründen nicht abgeschoben werden können“.
Wolfgang Wippermann, freitag