56 Organisationen warnen vor einer Zunahme der Todesfälle im Mittelmeer aufgrund der Festsetzungen von zivilen Rettungsschiffen
Dringende Warnung: Mehr Tote auf See, NGO-Schiffe werden festgesetzt – Europäische Staaten müssen die Behinderung der zivilen Such- und Rettungsmaßnahmen im zentralen Mittelmeer sofort beenden
Nach der jüngsten Festsetzung von drei zivilen Such- und Rettungsschiffen in Italien fordern 56 Organisationen in einer gemeinsamen Erklärung ein sofortiges Ende der Behinderung der humanitären Hilfe auf dem Mittelmeer. SOS Humanity gehört zu den Erstunterzeichnenden der Erklärung. Die deutsche Such- und Rettungsorganisation Organisation erfährt im Einsatz mit ihrem Rettungsschiff, der Humanity 1, selbst regelmäßig Einschränkungen seitens staatlicher Behörden. Diese kommen ihrer Pflicht zur Koordinierung von Seenotfällen häufig nicht nach. Italienische Behörden weisen nach Rettungen von Menschen in Seenot weit entfernte Häfen für die Ausschiffung Überlebender zu, die zivile Schiffe wie die Humanity 1 zu einer tagelangen Fahrt in den Norden Italiens zwingen. Damit werden Rettungsschiffe unnötig lange aus dem Einsatzgebiet ferngehalten. SOS Humanity erklärt sich solidarisch mit den Organisationen, deren Schiffe von den italienischen Behörden blockiert werden.
Die vollständige Erklärung lesen Sie hier:
Dringende Warnung: Mehr Tote auf See, NGO-Schiffe werden festgesetzt – Europäische Staaten müssen die Behinderung der zivilen Such- und Rettungsmaßnahmen im zentralen Mittelmeer sofort beenden
Bei einem weiteren Schiffsunglück vor der griechischen Küste im Juni 2023 haben bis zu 600 Menschen ihr Leben verloren. Als Zivilgesellschaft sind wir erschüttert über die vermeidbaren Todesfälle im zentralen Mittelmeer, die Jahr für Jahr zunehmen. Während jedes Rettungsschiff dringend benötigt wird, um den weiteren Verlust von Menschenleben auf der tödlichsten Migrationsroute der Welt zu verhindern, behindern EU-Mitgliedsstaaten – allen voran Italien – aktiv die zivilen Such- und Rettungsbemühungen.
Derzeit werden drei zivile Schiffe, die für Such- und Rettungseinsätze voll ausgerüstet sind – Aurora, Open Arms und Sea-Eye 4 – am Einsatz auf See gehindert. Die drei Anordnungen zur Festsetzung, die innerhalb von weniger als 48 Stunden erlassen wurden, sind ein weiterer Beleg für die zahlreichen administrativen Hindernisse, mit denen Seenotrettungsorganisationen in diesem Jahr konfrontiert sind. Seit Anfang 2023 gab es in Italien acht Fälle von Festsetzungen von NGO-Schiffen. Die zivilen Rettungsschiffe Aurora, Geo Barents, Louise Michel, Mare*Go, Open Arms und Sea-Eye 4 wurden bzw. werden derzeit auf der Grundlage rechtswidriger Vorschriften jeweils 20 Tage lang vom Einsatz ferngehalten. Sowohl Aurora als auch Sea-Eye 4 werden in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal festgehalten. Diese verlorene Zeit von insgesamt 160 Tagen könnte für Rettungseinsätze genutzt werden und möglicherweise Schiffbrüche verhindern, die sich täglich im zentralen Mittelmeer ereignen.
Die administrativen Schikanen beruhen auf einem kürzlich erlassenen Gesetz [1] Italiens. Dieses erhöht die Anforderungen an NGO-Schiffe, die Such- und Rettungsaktionen durchführen und führt Sanktionen für den Fall der Nichteinhaltung ein. Die neuen Maßnahmen sind Teil einer langen Geschichte der Kriminalisierung und der Behinderung von zivilen Such- und Rettungsaktionen in Italien. Auf Grundlage des Gesetzes ordnen die italienischen Behörden zivile Rettungsschiffe an, unmittelbar nach einer Rettung einen zugewiesenen Hafen anlaufen müssen – selbst in Situationen, in denen sich in der Nähe des Schiffs offene Fälle von Booten in Seenot befinden. Das bedeutet, dass das neue Gesetz Druck auf die Kapitäne der zivilen Flotte ausübt, das internationale Seerecht und die Pflicht zur Rettung zu missachten. Die italienischen Behörden schränken damit die Rettungsmaßnahmen ein – entgegen der internationalen rechtlichen Verpflichtung zur Rettung.
Erschwerend kommt hinzu, dass die italienische Regierung von zivilen Rettungsschiffen verlangt, gerettete Menschen in Häfen an Land zu bringen, die bis zu 1 600 km und fünf Tage Fahrt vom Ort der Rettung entfernt sind. Nach internationalem Recht sollte die Ausschiffung von aus Seenot geretteten Personen an einem sicheren Ort “so schnell wie möglich” und “mit minimaler Abweichung von der vorgesehenen Reise des Schiffes” erfolgen, und die Zeit, die Überlebende an Bord verbringen, sollte auf ein Minimum reduziert werden [2]. In mehr als 60 Fällen haben die italienischen Behörden jedoch seit Dezember 2022 den Rettungsschiffen einen unnötig weit entfernten Hafen zugewiesen. Darüber hinaus haben die italienischen Behörden in letzter Zeit wiederholt NGO-Schiffe angewiesen, für die aus dem Meer geretteten Menschen einen sicheren Ort in Tunesien zu beantragen. Angesichts des gravierenden Mangels an Schutz für Asylsuchende und der zunehmenden Gewalt gegen migrierende Menschen kann Tunesien nicht als sicherer Ort gelten. Die Ausschiffung der geretteten Menschen an der tunesischen Küste wäre ein Verstoß gegen das Völkerrecht.
Die Nichteinhaltung der unrechtmäßigen Anordnungen der italienischen Behörden hat bereits zu Geldstrafen von bis zu 10.000 Euro für Seenotrettungsorganisationen und zu 20-tägigen Festsetzungen von sechs Rettungsschiffen geführt. Allen Organisationen, die Such- und Rettungsaktionen auf See durchführen, drohen nun nicht nur weitere Geldstrafen und Festsetzungen, sondern letztlich die Beschlagnahmungen des Schiffes, was zu einer dauerhaften Einstellung ihrer Tätigkeit führen würde.
Das Festhalten und möglicherweise sogar die Beschlagnahmung von zivilen Rettungsschiffen sowie die Zuweisung entfernter Häfen schränken die Rettungsschiffe bei ihren lebensrettenden Einsätzen ein. Wir wissen aus der Einschränkung von Such- und Rettungsorganisationen durch die griechische Regierung im September 2021, dass die schleichenden Behinderungen, die wir jetzt in Italien erleben, letztendlich dazu führen werden, dass weniger zivile Rettungsschiffe operieren und damit der Verlust an Menschenleben auf dem Mittelmeer zunimmt.
Als Nichtregierungsorganisationen, Verbände und Initiativen, die sich für den Zugang zu Schutz und die Achtung der Grundrechte von Menschen auf der Flucht einsetzen, sind wir Zeugen der tödlichen Abschottungs- und Abschreckungspolitik der EU. Diese Politik führt nicht dazu, dass weniger Menschen versuchen, die Grenze zu überqueren, sondern zu mehr Leid und Todesfällen. Während Italien – unterstützt von der schweigenden Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten – diese restriktiven Maßnahmen ergriff, stieg die Zahl der tödlichen Schiffsunglücke dramatisch an. Das Jahr 2023 zählt schon jetzt einem der tödlichsten des letzten Jahrzehnts. Die Zunahme der Schiffsunglücke macht die Dringlichkeit zusätzlicher Such- und Rettungsmittel noch deutlicher.
Daher richten wir einen dringenden Appell an die EU und ihre Mitgliedstaaten: Wenn die Behinderung der humanitären Hilfe auf See anhält, könnten wir bis zum Ende des Jahres eine drastisch verringerte oder sogar keine Präsenz von zivilen Rettungsschiffen auf See erleben. Die Folgen werden noch tödlicher sein, da die Einschränkung der zivilen Rettungsbemühungen die Menschen nicht von ihren Versuchen der Überfahrt abhalten wird.
Wir fordern daher die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, dringend zu handeln und die unrechtmäßige Blockade der zivilen Rettungsschiffe in Italien zu beenden. Alle zivilen Rettungsschiffe müssen sofort freigelassen werden und alle damit verbundenen Geldstrafen müssen fallen gelassen werden. Das italienische Gesetz, das die Such- und Rettungsaktivitäten von Nichtregierungsorganisationen im zentralen Mittelmeer einschränkt, muss sofort aufgehoben werden. Stattdessen muss das geltende internationale See- und Menschenrecht der Rahmen für alle Akteure auf See sein. Die EU-Kommission muss dem zunehmenden Eingriff in rechtsstaatliche Grundprinzipien durch ihre Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen entgegenwirken. Außerdem müssen die EU-Staaten legale und sichere Korridore schaffen, um zu verhindern, dass Menschen auf der Suche nach Sicherheit auf seeuntaugliche Boote gezwungen werden.
[1] Gesetzesdekret Nr. 1/2023, geändert durch Gesetz Nr. 15 vom 24. Februar 2023
[2] 2004 Änderung der Anlage des Internationalen Übereinkommens über den Such- und Rettungsdienst auf See (1979), IMO Resolution MSC.155(78), 3.1.9; IMO Resolution MSC.167(78), 2004, 6.8
SOS Humantiy