Der methodologische Amoklauf des Lungenarztes Dieter Köhler
Die Automobilkonzerne kommen aus ihrer Krise aufgrund jahrzehntelangen kriminellen Abgasbetrugs nicht heraus. Die Kritik daran, dass bürgerliche Politiker willfährige Diener der Monopole sind, ist ein hauptsächlicher Grund für die tiefe Vertrauenskrise wachsender Teile der Massen in die Regierungsparteien.
Wie dreist sich die Automobilkonzerne über die Belange der Menschen und der Umwelt hinwegsetzen, zeigt sich an den aktuellen Diskussionen über ein Tempolimit auf Autobahnen und die Grenzwerte für Diesel-Schadstoffe.
Das von einer Regierungskommission zum Klimaschutz vorgeschlagene generelle Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf deutschen Autobahnen ist zu unterstützen, senkt es doch nachgewiesenermaßen die Unfallzahlen und die Menge der ausgestoßenen Abgase. Freilich ersetzt es nicht dringend notwendige weitergehende verkehrs- und klimapolitische Maßnahmen wie den umfassenden Ausbau eines kostenlosen öffentlichen Nahverkehrssystems.
In Kürze:
- Autokonzerne lehnen Tempolimit und Grenzwerte für Diesel-Schadstoffe ab
- Inszenierte Kampagne gegen Grenzwerte unter Beihilfe des ehemaligen DPG-Präsidenten Dieter Köhler
- Reaktionäre Rolle des Positivismus gehört mit ins Zentrum der Kritik
Doch schon ein generelles Tempolimit geht der deutschen Autoindustrie entschieden zu weit. Könnte es doch ihren Absatz PS-starker und schnellfahrender Pkw schmälern, mit denen sich besonders hohe Profitspannen erzielen lassen. Wenn wundert es, dass Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) solche Ansinnen ganz im Sinne der Diktatur der Monopole zurückweist.
Scheuer pocht dabei auf das “Prinzip der Freiheit”. Welche Freiheit er wohl meint? Die Freiheit, täglich Stunden im Stau zu verbringen oder die, zu den mehr als 3.200 Verkehrstoten pro Jahr zu gehören? Wohl kaum die Freiheit, unfreiwillig zur beschleunigten Anreicherung der Erdatmosphäre mit CO2 und zum Ausstoß von giftigem Feinstaub sowie Stickoxid beizutragen. Gemeint sein kann allenfalls die Freiheit der Autokonzerne, ihre Maximalprofite auf Kosten der Automobilarbeiter, der Umwelt und der ganzen Gesellschaft weiter zu steigern.
Kampagne gegen Diesel-Grenzwerte soll Verwirrung stiften
Scheuer und die Autokonzerne ernten für solche Rechtfertigungen zunehmend breite Empörung und Häme. Die von ihnen in Gang gesetzte Kampagne gegen die Grenzwerte für Diesel-Schadstoffe zielt vor allem darauf ab, Verwirrung zu stiften und das auf breiter Front erwachende Umweltbewusstsein zu zersetzen. Dafür kam ihnen der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DPG), Dieter Köhler, mit seinen Statements gegen die angeblich “überzogenen” und “unsystematischen” Grenzwerte gerade recht.
Dieter Köhler kennt sich damit zwar nicht sonderlich aus, weil er weder Epidemiologe, Allergologe oder Toxikologe ist, sondern eben ein pensionierter Lungenarzt. Er fühlt sich dennoch dazu berufen, weil “Wissenschaftsmethodologie” sein Hobby ist. Als ausdrücklicher Anhänger des neopositivistischen Philosophen Karl Popper zieht er gegen die “Feinstaub-Community” zu Felde, weil sie statistische mit kausalen Wirkungen verwechsle. Seine Schlussfolgerung: “Ich würde die Grenzwerte einfach hochsetzen, dann ist die Diskussion weg.” Bei “Anne Will” am 27. Januar verstieg er sich gar zu der Behauptung: „Der Diesel stößt am Auspuff sauberere Luft aus als er einsaugt.“
Weltanschaulich reaktionärer Hintergrund
Mit der Berufung auf Popper offenbart Köhler, welcher reaktionäre weltanschauliche Hintergrund ihn treibt. Der österreichisch-britische Philosoph (1902-1994) lehnte wissenschaftliche Verallgemeinerungen undTheorien als “unsichere Spekulationen” ab. Die von ihm entwickelte “nicht begründungsorientierte Philosophie der Kritik” predigt die grundlegede Skepsis gegenüber gesetzmäßigen Zusammenhängen.
Der Positivismus gibt sich wissenschaftlich, leugnet aber die Erkennbarkeit von tieferen Ursachen, Wechselwirkungen und Gesetzmäßigkeiten. “Die Naturwissenschaft soll sich auf das ‘positiv’ Gegebene, also auf beobachtbare Gegenstände und Vorgänge beschränken.”1
Zusammenhänge eindeutig nachgewiesen
Dabei sind die Zusammenhänge zwischen Stickoxid- sowie Feinstaubbelastung und einer wachsenden Zahl von Krankheiten eindeutig bewiesen. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO hat das mit umfangreichen Studien belegt.
Der Positivismus versucht solche Zusammenhänge zu verkleistern – auch in anderen Fragen wie bei Schadstoffen am Arbeitsplatz, bei Asbest oder dem radioaktiven Feinstaub, der durch den Braunkohletagebau freigesetzt wird. Die Botschaft: Zusammenhänge, die nicht erkennbar sind, können auch nicht verändert werden.
Nähe zur Automobilindustrie
Es ist nur konsequent, dass Köhler sich damit zum nützlichen Büttel der Autokonzerne und ihres Sachwalters Scheuer macht. Zwar weist er jeden Vorwurf des “Lobbyismus” zurück. Doch seine Nähe zur Automobilindustrie kann er nicht leugnen. So gehören zu den vier Autoren des Briefes auch der Leiter des Instituts für Kolbenmaschinen, Dr. Thomas Koch, der zehn Jahre bei Daimler in der Motorenentwicklung arbeitete, und Prof. Matthias Klingner vom Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme in Dresden.
Am 20. Februar 2018 hielt Köhler einen Vortrag auf dem 10. Internationalen AVL-Forum. AVL ist ein österreichischer Zulieferer für die Automobilindustrie und stellt unter anderem Geräte zur Stickoxid-Messung her. Laut “Stuttgarter Nachrichten” redete Köhler die Studien zu Stickoxid und Feinstaub an diesem Tag in “Grund und Boden”. Er ist auch Beirat der Deutschen Lungenstiftung e.V., die 2014 eine Spende der Uni-Credit-Leasing erhielt. Diese steht in Europa im Geschäftsfeld “Automobil Leasing” an zweiter Stelle.
Applaus von der AfD
Kein Wunder auch, dass Köhler von AfD Applaus bekommt. Statt Stickoxide und Feinstaub zu bekämpfen, haben Köhler, ultrareaktionäre Politiker und Automanager diejenigen Wissenschaftler, Umweltverbände und Institutionen, die die – immer noch unzureichenden – Grenzwerte aufstellen und begründen, zu ihren Feinden erkoren.
Um seine kürzlich veröffentlichte Stellungnahme aufzuwerten, gewann Köhler per Email-Anfrage (die E-Mail-Liste aller Mitglieder stand ihm als ehemaligem DPG-Präsidenten noch zur Verfügung) rund hundert Lungenärzte für deren Unterstützung (siehe Rote Fahne News). Das sind gerade mal 3 Prozent aller Lungenfachärzte. Nach gegenteiligen Meinungen hatte Köhler in dem Rundmail nicht gefragt.
Viele Lungenärzte empört
Seitdem ist die Empörung gerade auch unter den Lungenfachärzten groß, weil viele sich nicht in die Nähe der Automobilindustrie und ihrer Ablehnung der Diesel-Grenzwerte bringen lassen wollen. Der Leverkusener Lungenarzt Norbert Mülleneisen, der durch seine Klage gegen zwölf VW-Manager wegen des Dieselbetrugs bekannt wurde, dazu im Gespräch mit Rote Fahne News:
“Wir werden doch als Pneumologen, als Lungenfachärzte derzeit so wahrgenommen werden, als wollten wir das verharmlosen. Das ist eine katastrophale Debatte, die da im Moment von Herrn Köhler angeregt wird, die in die völlig falsche Richtung geht. Deswegen bin ich auch sehr enttäuscht. Das hätte er mitkriegen können, dass jetzt die Bild-Zeitung, die Autoindustrie und unser lieber Verkehrsminister da draufspringen.” (Ein ausführliches Interview mit Norbert Mülleneisen findet sich im Rote Fahne Magazin 3/2019, das diesen Freitag erscheint – es kann hier bestellt werden.)
Wer mehr über die reaktionäre Rolle des Positivismus, aber auch über die Perspektiven des Umweltkampfs erfahren will, kann dies am besten mit dem Buch “Katastrophenalarm! Was tun gegen die mutwillige Zerstörung der Einheit von Mensch und Natur?” (mehr dazu hier).