Hessens rechtes Problem
Wenige Tage nach der ersten Enthüllung erfährt die Öffentlichkeit am 14. Dezember 2018 von einem anonymen Fax, das Seda Başay-Yıldız vier Monate zuvor erhalten hatte. Dort wurde die Frankfurter Anwältin rassistisch beschimpft. Und ihr wurde gedroht, ihre zweijährige Tochter umzubringen. Das Fax war unterzeichnet mit „NSU 2.0“ – ausgerechnet. Nur wenige Monate zuvor endete in München der Prozess um die Mordserie der rechtsterroristischen Gruppe, die sich als „Nationalsozialistischer Untergrund“ bezeichnete – als „NSU“. Başay-Yıldız vertrat dort die Hinterbliebenen des ersten Mordopfers Enver Şimşek.
Doch wie viele Opfer rechter Einschüchterungsversuche, so hatte sich auch Seda Başay-Yıldız irgendwie daran gewöhnt. Aber dieses Mal enthält das Drohschreiben ihre Privatadresse und den Vornamen ihrer Tochter – Daten, die nicht öffentlich zugänglich waren. Also erstattet die Anwältin erstmals Anzeige. Der Staatsschutz übernimmt den Fall und findet heraus, dass von einem Computer des 1. Frankfurter Polizeireviers im Sommer 2018 die Daten der Anwältin abgefragt wurden. Offensichtlich ohne dienstlichen Grund. Also wird das Handy der verdächtigen Beamtin sichergestellt, ihre Wohnung durchsucht. Dabei stoßen die Ermittler auf den rechtsextremen Chat.
Plötzlich steht ein ungeheuerlicher Verdacht im Raum: Konnten die Morddrohungen aus den Reihen der Polizei stammen? Die Ereignisse erreichen schnell den Hessischen Landtag, am 19. Dezember tagt der Innenausschuss. Die Opposition zeigt sich empört, dass Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) das Parlament nicht früher informiert hatte. Beobachter fühlen sich an den NSU-Mord von Kassel erinnert – auch dort hatte die hessische Politik die Aufklärung behindert.
Nur einen Tag nach der Sitzung im Landtag bekommt Başay-Yıldız das nächste Fax, in dem auch ihr Ehemann und ihre Eltern bedroht werden. Im Juni 2019 wird dann einer der Beamten aus der rechten Chatgruppe vorläufig festgenommen – er steht im Verdacht, mit den Schreiben an die Anwältin in Verbindung zu stehen. Mit den Drohungen geht es indessen weiter. Am 5. Juni erhält Seda Başay-Yıldız nach Informationen des Hessischen Rundfunks erneut ein Drohfax vom „NSU 2.0“. Dort prahlen der oder die Täter mit dem Mord an Walter Lübcke. Vier Tage zuvor wurde der Kasseler Regierungspräsident auf seiner Veranda erschossen – dass die Tat einen rechtsextremen Hintergrund hat, war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht öffentlich bekannt.
Dutzende Beamte verdächtig
Heute, über zwei Jahre nach dem ersten Drohschreiben des „NSU 2.0“, kann man als Beobachter leicht den Überblick verlieren. Das, was damals kurz vor Weihnachten ans Licht kam, war jedenfalls erst der Anfang des Skandals. Zwischenzeitlich ermitteln 60 Beamte in Hessen wegen rechter Umtriebe in den eigenen Reihen, Dutzende Polizisten werden verdächtigt. Es geht um rechte Parolen und mehrere Nazi-Chats, um die Weitergabe von polizeilichen Informationen an militante Neonazis und um Sympathien für „Reichsbürger“. Allerdings wurden viele dieser Fälle bis heute nicht vollständig aufgeklärt.
Stattdessen nehmen die Morddrohungen kein Ende. Seit März 2019 bekommt auch die Berliner Kabarettistin İdil Baydar immer wieder anonyme Post im „NSU 2.0“-Stil. Anfang Juli dieses Jahres wird zudem bekannt, dass Janine Wissler seit Monaten bedroht wird. Sie sitzt für die Linkspartei im Hessischen Landtag, kandidierte nunmehr für deren Bundesvorsitz. Und wieder steht die Polizei im Fokus: Die Daten beider Frauen sind ohne erkennbaren Grund von hessischen Polizeicomputern abgefragt worden. Doch wie schon im Fall Başay-Yıldız erfahren Öffentlichkeit und Betroffene erst Monate später von den internen polizeilichen Ermittlungen.
Inzwischen kann sich auch Hessens Innenminister Peter Beuth kaum noch wegducken. Also setzt er Anfang Juli einen Sonderermittler ein, kurz darauf muss der hessische Polizeipräsident Udo Münch seinen Hut nehmen. Wieder einmal heißt das große Versprechen: Aufklärung. Ende Juli tagt schließlich der Innenausschuss des Hessischen Landtags, Anfang August auch der Rechtsausschuss. Das große Thema sind wieder mal die neuen Enthüllungen zum „NSU 2.0“ – und die vielen Ungereimtheiten.
So wurden die Daten von İdil Baydar bereits am 5. März 2019 von einem Computer des 4. Polizeireviers der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden abgefragt – die erste Vernehmung eines Polizeibeamten erfolgte aber erst im Juni 2020. Warum so spät? Innenminister Beuth kann das im Ausschuss nicht beantworten. „Da mag Corona ein Grund sein.“ Allerdings brach die Pandemie ja erst im März 2020 in Deutschland aus. Beuth selbst sei ohnehin erst im Juli dieses Jahres über die widerrechtlichen Datenabfragen informiert worden.
In keinem der beiden Fälle kam es zu Hausdurchsuchungen – dabei hatte doch genau dies im Fall des 1. Frankfurter Reviers zum Aufdecken der rechten Chatgruppe geführt. Innenminister Beuth begründet das Vorgehen nun mit einem „fehlenden Anfangsverdacht“. Das Problem bei polizeilichen Datenabfragen: Wenn ein Beamter eingeloggt ist und sich nicht wieder ausloggt, können auch andere Beamte auf diesen Rechner zugreifen. Es ist also schwierig, den Täter ausfindig zu machen. Insofern unterscheidet sich die Situation aber nicht von der auf dem Frankfurter Revier – dennoch hatte die Staatsanwaltschaft seinerzeit einen Anfangsverdacht gesehen und Hausdurchsuchungen veranlasst.
Doch weil die Urheber der Drohschreiben damals nicht ermittelt werden konnten, habe man nun andere Maßstäbe angelegt, berichtet der zuständige Frankfurter Oberstaatsanwalt im Rechtsausschuss. Außerdem seien die Ermittlungen im Darknet äußerst schwierig: Um die Täter, die stets verschlüsselte Nachrichten senden, ausfindig zu machen, wurden mehrere Rechtshilfeersuchen an andere Staaten gestellt, die teils noch unbeantwortet seien. Was sagt der Innenminister? Bereits nach den ersten Drohmails an Seda Başay-Yıldız kündigte er an, polizeiliche Datenabfragen sicherer zu machen. Passiert ist seither wenig. Im Innenausschuss bekräftigte er seine Absicht, „mittelfristig“ weitere Sicherheitsmechanismen einzubauen.
Die Grünen bleiben stumm
Ein rechtes Netzwerk innerhalb der Polizei kann nun auch Beuth nicht mehr ausschließen. Laut einer Umfrage des Spiegel gab es in den vergangenen Jahren bundesweit 400 Verdachtsfälle wegen rechtsextremer Umtriebe bei der Polizei, davon verzeichnete Hessen mit 70 die meisten. Außerdem wurden seit 2018 Hunderte Verfahren wegen unberechtigter Datenabfragen eingeleitet. Wer hinter dem „NSU 2.0“ steckt, ist immer noch nicht bekannt.
Dafür wird die Liste derjenigen, die bedroht werden, immer länger: Mindestens 100 E-Mails, Faxe und Droh-SMS wurden an Schauspielerinnen und Anwälte, an Gerichte, Medienhäuser und Bundestagsabgeordnete verschickt. Dazu kommen weitere Drohschreiben, vermutlich von Trittbrettfahrern – und immer mehr Fälle illegaler Datenabfrage bei der Polizei.
Am 15. Juni 2020, als in der taz ein polizeikritischer Text der Autorin Hengameh Yaghoobifarah erschien, wurden ihre Daten bei der Hamburger Polizei abgefragt. Im Juli tauchte ihr Name dann in einem Brief des „NSU 2.0“ auf. Zudem wurden die Daten der Kabarettistin İdil Baydar nicht nur in Wiesbaden, sondern ebenso an einem Berliner Polizeicomputer abgefragt. Auch Seda Başay-Yıldız erhält weiter Drohmails. Anfang September wurde bekannt, dass in einem neuen Drohschreiben ihre neue Wohnanschrift genannt wurde.
Woher sie stammt? Ob man der Polizei noch trauen kann? Trotz aller Brisanz will der Generalbundesanwalt die Ermittlungen bisher nicht an sich ziehen. Und die Grünen, in Hessen Koalitionspartner der CDU, bleiben auffallend stumm.