Selbstentzauberung des Westens: Das afghanische Debakel
Nach den Terroranschlägen von Al-Qaida auf die USA am 11. September 2001 begannen die USA und NATO-Verbündete wie Deutschland – mit Zustimmung der Regierung Schröder/Fischer – den Internationalen Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan, um die damalige Taliban-Regierung zu stürzen und die Terrororganisation Al-Qaida, die von den Taliban in ihrem islamischen Emirat beherbergt wurde, zu bekämpfen.
Ende 2014 lief das Mandat für die NATO-geführte ISAF-Truppe aus und ein Großteil der ausländischen Kampftruppen wurde abgezogen. Eine verkleinerte NATO-Mission (darunter auch deutsche Soldat:innen) verblieb im Land, um die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin zu unterstützen. Diese reduzierte Mission wurde nun von der westlichen Führungsmacht unter Joe Biden Hals über Kopf beendet. Den übrigen Verbündeten blieb nichts anderes übrig als ihre Truppen ebenfalls über Nacht abzuziehen, da ihre militärische Präsenz von der der USA abhing.
In der Folge überrannten die Taliban das gesamte Land innerhalb weniger Wochen und nahmen die Hauptstadt Kabul ein. Die ca. 300.000 Soldaten umfassenden afghanischen Regierungstruppen hatten der militärischen Offensive der Taliban nichts entgegenzusetzen. Sie kannten offenbar die tatsächlichen Machtverhältnisse und überließen den Taliban mehr oder weniger kampflos das Feld.
Dem 20-jährigen Kriegseinsatz fielen insgesamt mindestens 80.000 Menschen zum Opfer, mehrere Millionen Afghan:innen sind vor dem Krieg in andere Länder geflohen. Die Kosten des Kriegseinsatzes beliefen sich, so US-Präsident Joe Biden, auf eine Billion US-$. Deutschland kostete der Einsatz etliche Milliarden Euro. In Afghanistan drohen neben einem wirtschaftlichen und sozialen Chaos massive Rückschritte vor allem bei den mühsam erkämpften Rechten der Frauen, z.B. in der für Frauen zentralen Frage der Bildung, sowie eine erneute massive Flucht von Schutzsuchenden in die Nachbarländer und auch nach Europa.
Joe Biden erklärte, er habe sich hinsichtlich der Dauer der politischen Überlebensfähigkeit der afghanischen Regierung geirrt. Ansonsten verwies er auf das Versagen der afghanischen Regierung, die ins Ausland geflohen sei, statt den Widerstand gegen die Taliban zu organisieren. Die von der NATO mit hohem Aufwand ausgebildeten und mit viel militärischem Material ausgerüsteten afghanischen Streitkräfte hätten keine Kampfmoral gezeigt. SPD-Bundesaußenminister Maas äußerte noch vor wenigen Wochen, dass eine schnelle Machtübernahme der Taliban jenseits seines Erwartungshorizontes liege.
Das Gebäude der Illusionen, denen der Westen und die NATO mit der militärischen Intervention und innerhalb des 20-jährigen Kriegseinsatzes erlegen sind, ist in atemberaubender Geschwindigkeit komplett eingestürzt. Im Chaos des von der Trump-Regierung in Verhandlungen mit den Taliban in Doha eingefädelten und nun von der Biden-Regierung überhastet herbeigeführten Truppenabzugs sowie der nach Truppenabzug begonnenen Evakuierungsaktion von Botschaftspersonal, Hilfskräften vor Ort und fortschrittlichen politischen Personen spiegelt sich letztlich das Desaster der gesamten militärischen Intervention der NATO in Afghanistan.
Es gab keine Exit-Strategie. Eine solche konnte es angesichts der besonderen Verhältnisse am Hindukusch auch nie geben. Die militärische Intervention und ihr den Westen demütigendes Ende basierten auf einer Mischung aus westlicher, imperialer Arroganz, einem erschreckenden Wissensdefizit über den spezifischen Charakter der afghanischen Gesellschaft sowie chronischer Ignoranz gegenüber der faktischen Entwicklung während des Kriegseinsatzes.
Das Ende des Kriegseinsatzes in Afghanistan erinnert nicht nur an die letzten Tage des Vietnamkrieges. Die jüngere »Kriegsgeschichte« Afghanistans besteht aus diversen gescheiterten militärischen Interventionen, die mit der Vertreibung englischen Kolonialtruppen im 19. Jahrhundert beginnen und sich über die gescheiterte Intervention der UdSSR in Afghanistan (1979-1989) bis hin zur Intervention der NATO (2001-2021) infolge von 9/11 ziehen.
Die afghanische Falle
Friedrich Engels hatte 1857 das militärische Abenteuer der Briten, »in Afghanistan eine ihrer Kreaturen [Schah Schudschah – F.S.] auf den Thron zu setzen« und die Folgen für die britische Kolonialmacht beschrieben.[1] Die Mission scheiterte vor allem daran, dass die Briten den spezifischen Charakter der afghanischen Gesellschaft nicht richtig eingeschätzt hatten, nämlich die Vorherrschaft von Stammes- und Clanstrukturen, die dieser Gesellschaft eine enorme innere Stärke und Widerstandskraft verliehen. Durch Sparmaßnahmen der Briten zur Reduktion ihrer Interventionskosten kam es zudem zur Einsparung bei den aufgewendeten Bestechungsgeldern für die Stammesoberhäupter. Das von den Briten aufgebaute Patronage-System brach zusammen. Als sich daraufhin die afghanischen Stammesführer gegen die Briten und deren Vertreter vor Ort zusammenschlossen, war das Schicksal der britischen Intervention besiegelt. Die Briten mussten nach mehreren militärischen Auseinandersetzungen Kabul verlassen und marschierten über Dschalalabad und Peschawar nach Indien.
In den gegenwärtigen Grenzen entstand Afghanistan 1919 nach dem dritten anglo-afghanischen Krieg, der zur Anerkennung Afghanistans als souveränem und unabhängigem Staat durch Großbritannien führte. Modernisierungsmaßnahmen afghanischer Regierungen, etwa die Einführung einer Schulpflicht in Anlehnung an Atatürks Reformen, die auch Mädchen eine Schulbildung ermöglicht hätte, führte in den 1920er Jahren zu landesweiten Aufständen und zum Sturz der damaligen Regierung von Amanullah Khan.
Die 1978 durch einen Sturz der Regierung von Mohammed Daoud Khan an die Macht gekommene Kommunistische Demokratische Partei Afghanistans forcierte die Modernisierung durch Bodenreformen sowie Alphabetisierungs- und Bildungsprogramme und stieß dabei nicht nur auf starken Widerstand der Landbevölkerung, sondern auch auf erbitterte Gegenwehr der Großgrundbesitzer und des muslimischen Klerus. Die bewaffneten Aufstände gegen die »Ungläubigen« mündeten schließlich in einen Bürgerkrieg, der auch nicht durch die militärische Intervention der Sowjetunion (1979-1989) zugunsten der Kommunisten gewendet werden konnte.
Die islamistischen Vorläufer der Taliban (Mudschahidin) waren bereits vor der Intervention der UdSSR von den USA militärisch unterstützt worden, wie der Sicherheitsberater des damaligen Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski (1928-2017), später in einem Zeitungs-Interview (Le Nouvel Observateur, 15.12.1998) öffentlich einräumte und dies als »glänzende Idee« verkaufte, die Sowjetunion in die »afghanische Falle« gelockt zu haben. Hunderttausende Afghan:innen und 6.000 sowjetische Bürger:innen verloren im Zuge der sowjetischen Afghanistan-Besetzung ihr Leben, Millionen Afghan:innen flüchteten aus ihrem Land.
Im Kontext von »9/11« tapsten wenig später auch die USA selbst und ihre NATO-Verbündeten (einschließlich der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer) in die afghanische Falle. Da Afghanistan zumindest zu der Zeit keine besondere wirtschaftliche Bedeutung hatte, diente die militärische Intervention der USA neben der Bekämpfung des internationalen Terrorismus vor allem der Sicherung ihrer damals noch uneingeschränkten Vorherrschaft im indo-pazifischen Raum. Die für die Intervention politisch Verantwortlichen gaben sich zugleich der Illusion hin, dass eine solche Gesellschaft nach einer militärischen Besiegung von Al-Qaida und der Taliban von außen in die Moderne überführt werden könne: »Nation Building« und die Überbringung des »Leuchtfeuers der Demokratie« waren die öffentlichkeitswirksamen Leitparolen dieser Intervention.
Schonungslose Bilanz im US-Kongress bereits 2017
Seit 2008 zieht der »Special Inspektor General für Afghanistan« (Sigar), eine Kontrollinstanz des amerikanischen Kongresses für die amerikanische Intervention in Afghanistan, jährlich Bilanz zum Aufbau der dortigen Streitkräfte. Bereits 2017 fiel sie so schonungslos wie noch nie aus (vgl. hierzu FAZ vom 21.10.2017): Die USA hätten, so Sigar-Chef John F. Sopko, die Komplexität und die Dimension des Wiederaufbaus Afghanistans völlig unterschätzt. Sie hätten das Land hinsichtlich seiner Kriegsgeschichte, seiner Stammeskultur, seiner Armut und Unterentwicklung nicht begriffen und stattdessen sehr einseitig militärische Lösungen fokussiert. Der Aufbau staatlicher Strukturen sowie einer von der Bevölkerung akzeptierten und funktionierenden Regierung sei sträflich vernachlässigt worden.
Armee, Polizei und Geheimdienst seien daher nicht in der Lage, für die öffentliche Sicherheit zu sorgen. Die Korruption der afghanischen Führer und die geringe Kampfmoral der Soldaten seien ignoriert worden. Durch Allianzen der US-Streitkräfte mit diversen Warlords bei der Bekämpfung des Terrorismus seien Menschenrechtsverletzungen und Drogenhandel gefördert worden. Die Fähigkeiten der offiziellen polizeilichen und militärischen Institutionen Afghanistans seien schöngerechnet worden, um 2014 den Hauptteil der US-Truppen abziehen zu können.
Greifen wir den entscheidenden Punkt des Berichtes, die tunnelblickartige Fokussierung militärischer Lösungen statt einer nachhaltigen Bekämpfung von Armut und Unterentwicklung, heraus und betrachten die aktuelle ökonomisch-soziale Lage der afghanischen Bevölkerung anhand von Daten vor allem der UN und des IWF (FAZ vom 20.8. und vom 21.8.2021):
- Die Einwohnerzahlen Afghanistans explodieren von 13,3 Mio. im Jahr 1980 auf 38,9 Mio. 2020. Bis 2050 wird ein Anstieg auf 64,7 Mio. prognostiziert. Die Geburtenrate gehört zu den höchsten der Welt.
- Minderjährige sind die größte Altersgruppe mit einem Anteil von 60% an der Gesamtbevölkerung.
- Die Masse der Afghan:innen ist bettelarm. Viele sind unterernährt. Nach einem deutlichen Rückgang der Zahlen zwischen 2000 und 2010 steigt die Anzahl der Unterernährten wieder wellenförmig an. Zwischen 2018-20 lag sie bei etwa 9,7 Mio., was vor dem Hintergrund des Bevölkerungswachstums zwar einen relativen Rückgang bedeutet, der Anteil liegt aber gegenwärtig immer noch bei etwas mehr als einem Viertel der Bevölkerung.
- Die Infrastruktur des Landes befindet sich in einem erbärmlichen Zustand. Es fehlt an Straßen, Schulen, Brunnen und Öfen. Der Staat versorgt bisher nur 16% der Haushalte mit Wasser.
- Das Land erwirtschaftet im Jahr 2020 ein BIP von knapp 20 Mrd. US-$. Das Pro-Kopf-Einkommen p.a. beträgt 500 US-$. Wegen der schwierigen Wirtschaftslage investieren kaum ausländische Unternehmen in Afghanistan, auch nicht in den Abbau von Bodenschätzen. Der gesamte Güter-Export lag 2020 bei 777 Mio. US-$.
- 45% der Bevölkerung arbeiten noch in der Landwirtschaft und erwirtschaften 26% des BIP, was auch mit den dortigen geografischen und klimatischen Verhältnissen zusammenhängt. Die Hälfte der Bauern betreibt noch Subsistenz-Wirtschaft. Der hohe Anteil an unterernährten Menschen hängt daher auch mit dem Fehlen einer leistungsstarken Landwirtschaft zusammen. Allein für die Einfuhr von Nahrungsmitteln ist ein Betrag in der Höhe von 300% des Güter-Exports erforderlich.
- Das Leistungsbilanz-Defizit liegt im Jahr 2020 bei 24,3% des BIP und wurde bisher durch verschiedene ausländische Finanzhilfen finanziert.
Eine Untersuchung der EU aus dem Jahr 2016 (siehe FAZ vom 20.8.2021, S. 11) belegt, dass noch nicht einmal die Hälfte der afghanischen Kinder und Jugendlichen in den Genuss einer schulischen Bildung kommen, wobei sich zugleich eine gravierende Benachteiligung von Mädchen zeigt: 45,9% der Jungen, aber nur 21,7 % der afghanischen Mädchen können zur Schule gehen. 80% der Frauen sind Analphabetinnen. Die Zahlen mögen sich in den letzten Jahren verbessert haben, es besteht aber nach wie vor ein gravierendes Bildungsdefizit in der afghanischen Gesellschaft. Der äußerst geringe Bildungsstand hängt vor allem mit dem Vorherrschen patriarchal-repressiver Strukturen und generell fehlender Sicherheit für Frauen zusammen. Afghanistan liegt 2018 auf Platz zwei der gefährlichsten Länder für Frauen weltweit. Fast 90 % der afghanischen Frauen haben Menschenrechtsverletzungen erfahren.
Die vorliegenden Daten zeigen eines ganz klar: Auch nach 20 Jahren militärischer Intervention des Westens in Afghanistan befindet sich das Land auf einem äußerst geringen ökonomischen Entwicklungsniveau. Armut prägt den Alltag der meisten Menschen. Die schulische Bildung der Jugend ist katastrophal, die Lage der Mädchen und Frauen nach wie vor äußerst prekär.
Der Schlüssel zum Verständnis: die afghanische Stammesgesellschaft
Worin liegen die Gründe für die katastrophale Gesamtsituation Afghanistans und das Komplett-Scheitern der militärischen Intervention des Westens? Afghanistan ist kein Land mit kapitalistischer Produktionsweise und einer sich darauf gründenden bürgerlich-demokratischen Gesellschaft, sondern gehört zu den Ländern mit vorbürgerlichen Produktionsweisen, in welchen das einzelne Individuum noch mehr oder weniger eng – je nach historischer Ausprägung – mit den Strukturen des Gemeinwesens verbunden ist.
Der Schlüssel zum Verständnis solcher Gemeinwesen liegt in der afghanischen Stammesgesellschaft, die letztlich auf Verwandtschaftsbeziehungen basiert, die zugleich mit politischen, patriarchalen und religiösen Strukturen verbunden sind. Eine klare Auseinanderlegung gesellschaftlicher Strukturen in eine ökonomische Basis und abgeleitete Überbau-Strukturen existiert nicht. Hinzu kommen spezifische geografische und klimatische Gegebenheiten. Insgesamt schafft dieses Konglomerat aus verschiedenen Faktoren soziale Kohäsions-Strukturen, die, wie auch die empirischen Erfahrungen eindrucksvoll bestätigen, von außen kaum zu verändern sind.[2]
Afghanistan ist bis heute eine aus über 50 Ethnien bestehende Stammesgesellschaft, in der die Paschtunen (ca. 40% der Bevölkerung) den größten, selbst wieder in Unterstämme gegliederten Stamm bilden und auch die Führungsschicht stellen. Für Ethnologen sind die Paschtunen, die es auch in Pakistan gibt, die größte noch bestehende Stammesgesellschaft der Welt. Gastrecht und Asylrecht, aber auch Ehre, Familie, Rache und völlige Unterwerfung von Besiegten bilden Kernpunkte des Rechts- und Ehrenkodexes dieser Stammesgesellschaft.
In der zumindest dem Selbstverständnis nach stark egalitär geprägten Stammesversammlung (jirga), an der alle (z.B. durch einen Konflikt) betroffenen männlichen Stammesmitglieder teilnehmen, werden Konfliktlösungen nach dem Konsensprinzip gesucht. Die Paschtunen sind in ihrer Mehrheit sesshafte Bauern und Viehzüchter, teilweise aber auch Nomaden. Nachdem der Islam in verschiedenen Eroberungswellen die alten Religionen sukzessive verdrängt hatte, bekennen sich heute 99% der Bevölkerung Afghanistans zum Islam, überwiegend zur sunnitischen Glaubensrichtung.
Trotz aller gesellschaftlichen Hemmnisse haben auch in Afghanistan Modernisierungsprozesse stattgefunden, sie blieben aber im Wesentlichen auf die Hauptstadt Kabul beschränkt, wo in den 1960er Jahren sogar eine Aufbruchsstimmung in die Moderne herrschte und sich Frauen ohne Tschador und Schleier in der Öffentlichkeit bewegen konnten. Demgegenüber änderte sich die afghanische Gesellschaft auf dem Land, wo ca. 70% der Bevölkerung leben, kaum, auch wenn die Moderne dort inzwischen vermittels der neuen sozialen Medien zumindest teilweise virtuell anwesend ist. Der Gegensatz von Stadt und Land ist nach wie vor stark ausgeprägt.
Im Ergebnis der verschiedenen Interventionen der Großmächte UdSSR und USA wurde statt einer umfassenden ökonomischen, sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Modernisierung eine Militarisierung der afghanischen Gesellschaft und vor allem eine religiöse Fundamentalisierung und Radikalisierung (Jihadisierung) innerhalb der afghanischen Muslime bewirkt. Und damit wurde zugleich die Spaltung der afghanischen Gesellschaft in eine fortschrittliche, städtisch geprägte Minderheit und einer auf dem Land lebenden Mehrheit der Bevölkerung befördert.
Ende der «imperialen Überdehnung« der USA
Die Beendigung der militärischen Intervention der NATO in Afghanistan stellt nicht nur eine demütigende Niederlage für den Westen und die NATO, sondern zugleich »eine Zäsur für die internationalen Politik insgesamt dar« (FAZ 12.8.2021). Die Frage ist nur, wofür diese Zäsur steht.
Mit dem Rückzug aus Afghanistan ist die »unipolare« Phase und die »imperiale Überdehnung« der USA, die mit der Implosion der Sowjetunion und des dazu gehörenden Machtblocks begann und sich vor allem in den Kriegseinsätzen der NATO in Afghanistan, Irak und Libyen äußerte, zu Ende gegangen. Wir haben es mit einem Epochenwechsel in der internationalen Ordnung zu tun. Innenpolitisch hat sich in den USA daher schon lange Kriegsmüdigkeit breit gemacht. Vor allem Trump konnte davon bei seiner Wahl 2016 profitieren, d. h. mit seinem außenpolitischen Versprechen, all die endlosen und lächerlichen Kriege der USA in der Welt zu beenden, von denen die US-Bürger:innen, die diese bezahlen müssten, nicht einmal wüssten, wo die Kriegsschauplätze überhaupt lägen.
Aber es ist nicht allein der innenpolitische Faktor der Kriegsmüdigkeit, die die USA zur Beendigung ihrer militärischen Interventionen zwingen. Mit den erneuten geo-politischen Umwälzungen und Machtverschiebungen, die im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts begannen, zieht ein neuer geo-politischer Player am asiatischen Horizont auf, der den Westen und vor allem die westliche Führungsmacht herausfordert: Die Volksrepublik China.
Die hastige Beendigung der Militärintervention in Afghanistan hängt auch damit zusammen, dass sich der geo-politische Fokus der USA grundlegend verändert hat. Die Eindämmung des systemischen Rivalen China bindet zunehmend die Ressourcen der USA. In dem neuen, systemischen Konkurrenzkampf mit der Volksrepublik geht es den USA vor allem um Bewahrung und Ausbau ihrer Technologieführerschaft sowie, darauf aufbauend, auch um die Bewahrung und den Ausbau der militärischen Vorherrschaft. Endlose Kriege sowie deren Kosten sind daher nur noch ein Klotz am Bein der westlichen Führungsmacht. Sie liegen nicht mehr im nationalen Interesse der USA, wie Biden hervorhob.
Vor allem China und der Iran sind bereits jetzt die Gewinner des Rückzugs der NATO aus Afghanistan. Schon zuvor hatten China und der Iran eine massive Verstärkung ihrer wirtschaftlichen Beziehungen vereinbart und dabei auch Pakistan in diese Allianz mit eingebunden. Auch wenn China mit seiner muslimischen Minderheit repressiv umgeht, so ist die chinesische Außenpolitik und ihr Projekt »Neue Seidenstraße« nicht davon bestimmt, anderen Ländern das chinesische System aufzudrängen. Insofern wird China, wie sich bereits angedeutet hat, keine Berührungsängste haben, die sich mit dem Rückzug des Westens bietenden Chancen einer verstärkten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Afghanistan zu nutzen.
Unterdessen spitzt sich nicht nur die Lage am Kabuler Flughafen, der Drehscheibe für die Ausflüge bestimmter Personengruppen, zu. Es droht auch eine massive Verschlechterung der sozialen Lage der zurückbleibenden afghanischen Bevölkerung. Die Weltbank hat errechnet, dass die Hilfen für das Land fast 43% seiner Wirtschaftsleistung von knapp 20 Mrd. US-$ ausmachen. Die USA blockieren dort liegende afghanische Auslandsreserven in Höhe von sieben Mrd. US-$ (von 9 Mrd. US-$ Auslandsreserven insgesamt), der Internationale Währungsfonds (IWF) blockiert Sonderziehungsrechte Afghanistans von insgesamt 450 Mio. US-$. Auch Deutschland setzt kurzfristig die Entwicklungshilfe in Höhe von jährlich 400 Mio. Euro aus. In der Folge solcher und weiterer finanzieller Blockierungen droht Afghanistan daher eine Hungersnot. Humanitäre Hilfen des Westens für Afghanistan unter den Taliban sollen nur dann wieder fließen, wenn diese die Menschenrechte achten und Rechtsstaatlichkeit garantieren.
Ob es dazu tatsächlich kommt, erscheint derzeit als zweifelhaft. Als Alternativen wird die Landbevölkerung den Opiumanbau intensivieren, schon jetzt stammen mehr als zwei Drittel dieses Grundstoffes für Heroin vom Hindukusch, allein im letzten Jahr wuchs die Anbaufläche um fast 40%. Die den Taliban in Massen zugefallenen militärischen Ausrüstungsgüter der NATO werden den Waffenhandel in der Region befeuern. Sollten westliche Hilfen ausblieben, wird den Taliban letztlich nichts anderes übrigbleiben, als das Land China gegenüber wirtschaftlich zu öffnen.
Im Zuge der sich in den wirtschaftlich entwickelten Ländern herausbildenden Digital- und Plattform-Ökonomie wird China die in Afghanistan vermuteten, direkt vor seiner Haustür liegenden Bodenschätze (u.a. Lithium, Kupfer, seltene Erden), die gerade für die neue gesellschaftliche Betriebsweise der Digitalisierung von entscheidender Bedeutung sind, ausbeuten und im Gegenzug dem Taliban-Regime finanziell unter die Arme greifen, vermutlich mit der strikten Auflage, den Jihadismus nicht zu exportieren, weil dieser auch auf die chinesische muslimische Minderheit übergreifen könnte.
Die politische Debatte in Deutschland konzentriert sich gegenwärtig auf die Verantwortung für das chaotische Ende des Truppenabzuges aus Afghanistan. Das militärische und politische Desaster, das der Westen in Afghanistan angerichtet hat, bedarf aber in Gänze einer intensiven politischen Aufarbeitung, gerade hierzulande. Es steht außer Frage, dass sich die Unionsparteien, die SPD und die Grünen, die allesamt den Kriegseinsatz in Afghanistan mitgetragen haben, für dieses außenpolitische Komplett-Desaster politisch verantworten müssen. Für die Linkspartei eröffnet sich damit eine Chance, ihr außenpolitisches Profil zu schärfen.
Schonungslose politische Aufarbeitung des Afghanistan-Desasters?
Der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, bezeichnete den gescheiterten Einsatz in Afghanistan als »das größte Debakel, das die NATO seit ihrer Gründung erleidet« (FAZ vom 17.8.2021). Es markiere einen »Epochenwechsel«. Auch verlangte er eine »schonungslose Fehleranalyse«. Ob es dazu kommen wird, ist mehr als fraglich. Der von Laschet angesprochene Epochenwechsel liegt auch dem außenpolitischen Teil des Wahlprogramms der Union zugrunde, in dem sie den aufziehenden Großkonflikt zwischen dem kapitalistischen Westen und China ins Zentrum ihrer zukünftigen Außenpolitik rücken. Es gehe in den mehrschichtigen Beziehungen zu China vor allem um die Wahrung und den Ausbau der »Technologieführerschaft des wertegebundenen Westens«.[3]
Denn diese ist nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht von entscheidender Bedeutung, sondern bedeutet zugleich auch die globale Vorherrschaft auf der militärischen Ebene, die zunehmend von den IT-Techniken bestimmt wird. Die Digitalisierung ist daher im gegenwärtigen globalen Kontext zu einer »Machtfrage« mutiert, wie auch SPD-Außenminister Maas kürzlich versicherte (FAZ vom 13.7.2021). Es ist davon auszugehen, dass nach dem Bundestagswahlkampf die neue Regierung und die sie tragenden politischen Parteien sich sehr schnell auf den systemischen Konkurrenzkampf mit China orientieren und dabei die schonungslose Analyse des Afghanistan-Desasters weitgehend unter den Tisch fallen lassen werden.
Das Afghanistan-Desaster setzt auch die Grünen politisch unter Druck, die dieses Desaster neben der SPD mit ihrer damaligen Zustimmung zum NATO-Einsatz mitzuverantworten haben. Sie haben zwar die Bedeutung von Demokratie und Menschenrechten verinnerlicht, aber weitgehend das Gespür dafür verloren, dass die freiheitlichen Werte vom kapitalistischen Westen immer wieder je nach außenpolitischer Interessenslage instrumentalisiert werden. Mit ihrer Zustimmung zu den Kriegen der NATO gegen Jugoslawien und Afghanistan haben sie sich eindeutig vor den Karren der Ideologisierung der westlichen Außenpolitik spannen lassen.
Während die meisten grünen Wähler:innen noch im September 1998 glaubten, dass die Grünen niemals einen Krieg gutheißen würden, stimmten der designierte SPD-Kanzler Gerhard Schröder und der designierte Außenminister der Grünen Joseph Fischer bei einem Besuch in Washington am 9.10.1998 dem geplanten Krieg gegen Jugoslawien zu – bevor sie vereidigt wurden, bevor der Bundestag darüber entschieden hatte und ohne UN-Mandat, wie die ehemalige Grünen-Politikerin Jutta Ditfurth in ihrer kritischen Sicht auf die Geschichte der Grünen betont.
»In nur zwei Wochen legte die grüne Bundestagsfraktion ihre Kriegsgegnerschaft wie einen dreckigen Mantel ab … Sechs Monate später tönte Außenminister Fischer im Stahlgewitter-Sound des von ihm verehrten Ernst Jünger: ›Die Grünen wollen regieren, jetzt werden sie abgehärtet – oder zu Asche verbrannt‹. Am 24. März 1999 bombardierte die NATO Jugoslawien. 78 Tage Krieg, 38.000 Lufteinsätze, 9.160 Tonnen Bomben … Menschen starben auf Wiesen, in Häusern, in Zügen, auf der Flucht, in Krankenhäusern, Fabriken, Studentenwohnheimen und Schulen. Die NATO erklärte sich zum Weltkriegsbündnis, von den Grünen kam kein Widerspruch mehr. Im November 2001 beschloss der Bundestag im ›Krieg gegen den Terror‹ und im Rahmen der Operation Enduring Freedom, 1.200 Bundeswehr-Soldaten in ein Land zu schicken, das Deutschland nicht angegriffen und dem es den Krieg auch nicht erklärt hatte: Afghanistan. Bundeskanzler Schröder verknüpfte die Zustimmung zum Kriegseinsatz am 16. November mit der Vertrauensfrage. Die rot-grüne Mehrheit war knapp. Mit einem Nein zum Krieg wären all die netten Minister-, Staatssekretärs- und sonstigen Posten futsch gewesen.« (Jutta Ditfurth, Das größere Übel, in: konkret 6/2021)
Die Grünen wurden zum entscheidenden Vehikel eines qualitativen Umschlags in der deutschen Außenpolitik hin zur Beteiligung Deutschlands an militärischen Einsätzen der NATO, was es bis 1999 nicht gab. Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, hält den Einmarsch der NATO-Truppen in Afghanistan 2001 nach wie vor für richtig, wie sie am 19.8.2021 in der Sendung »Maybrit Illner« nochmal betonte, und sieht politische Versäumnisse erst bei der Art und Weise der Durchführung dieses Einsatzes. Von einer schonungslosen politischen Aufarbeitung dieser Verstrickung der Grünen in die imperialistische Politik des Westens ist das grüne Führungspersonal damit weit entfernt.
Die Linkspartei wirkte außenpolitisch bisher eher »aus der Zeit gefallen«, wie Paul Schäfer,[4] das Neue Deutschland zitierend, feststellte. Für die FAZ ist längst ausgemacht, dass die Linkspartei eine Partei ist, »die niemand mehr braucht« (FAZ vom 6.9.2021). DIE LINKE zieht sich bisher hinter abstrakte, radikale Forderungen nach der Auflösung der NATO und dem Aufbau einer neuen globalen Sicherheitsarchitektur zurück und bleibt in zentralen konkreten außenpolitischen Fragen profillos. Die ungeklärten parteiinternen Konflikte und das Fehlen eines klaren außenpolitischen Profils führen bisher dazu, dass die Partei bei zentralen außenpolitischen Konflikten entweder durch Sprachlosigkeit glänzt oder durch unkritische Positionen etwa gegenüber tradierten, politisch repressiven sozialistischen Regimen wie Venezuela oder Kuba auffällt oder in einen moralischen Fundamentalismus in der Frage von UN-legitimierten Auslandseinsätzen der Bundeswehr verfällt.
Allerdings zeigt das Afghanistan-Desaster auch, dass die Linkspartei mit der konsequenten Verurteilung dieser militärischen Intervention gerade nicht aus der Zeit fällt, sondern politisch vollkommen richtig liegt. Statt sich immer wieder von SPD und Grünen vorhalten zu lassen, dass es ihr an außenpolitischer Kompetenz mangele, die die Bildung einer grün-rot-roten Regierung auf Bundesebene verhindere, sollte die Linkspartei in die Offensive gehen und am afghanischen Desaster beispielhaft klarstellen, um was es im Rahmen einer zukunftsfähigen Außenpolitik primär gehen muss, nämlich um verstärkte internationale Kooperation und nicht um die Bewahrung und den Ausbau technologischer und militärischer Vorherrschaft des Westen.
DIE LINKE müsste sich für eine Neuaufstellung der EU in der sich abzeichnenden »Konkurrenz-Triade« zwischen Asien, den USA und Europa stark machen und sich gegen eine Vereinnahmung Europas durch die USA im systemischen Konkurrenzkampf mit China im Sinne einer strategischen Autonomie positionieren.
Trotz des Afghanistan-Desasters ist aber auch auf die Militär-Einsätze des Westens zu blicken, die nicht stattgefunden haben und daher einen Völkermord – wie 1994 in Ruanda – nicht verhindert haben. Statt Ablehnung jeglicher Art von Auslandseinsatz der Bundeswehr ist unbedingt Differenzierung erforderlich. Voraussetzungen für einen Auslandseinsatz der Bundeswehr ist grundsätzlich eine Mandatierung durch die UN und eine sorgfältige Prüfung, ob alle zivilen Möglichkeiten der Konfliktklärung zwischen verfeindeten Bevölkerungsgruppen tatsächlich ausgeschöpft sind. Überhaupt sind zunächst die internationale Krisenprävention sowie das zivile Konflikt- und Krisen-Management umfassend zu stärken, statt weiter militärisch aufzurüsten.
Anmerkungen
[1] »Die Eroberung Afghanistans schien abgeschlossen zu sein, und ein beträchtlicher Teil der Truppen wurde zurückgeschickt. Aber die Afghanen gaben sich keineswegs damit zufrieden, von den Feringhi Kafirs (den europäischen Ungläubigen) beherrscht zu werden, und während der Jahre 1840 und 1841 folgte in den einzelnen Teilen des Landes ein Aufstand dem andern. Die englisch-indischen Truppen waren gezwungen, ständig in Bewegung zu bleiben. Doch Macnaghten erklärte, das sei der normale Zustand der afghanischen Gesellschaft, und schrieb nach Hause, alles sei in Ordnung und die Macht festige sich. Vergeblich waren die Warnungen der englischen Offiziere und anderer politischer Agenten. Dost Muhammad hatte sich im Oktober 1840 den Briten ergeben und wurde nach Indien geschickt; alle Aufstände während des Sommers 1841 wurden erfolgreich unterdrückt, und gegen Oktober beabsichtigte Macnaghten, der zum Gouverneur von Bombay ernannt worden war, mit einer anderen Truppeneinheit nach Indien abzuziehen. Da aber brach der Sturm los. Die Besetzung Afghanistans kostete dem indischen Schatzamt jährlich 1.250.000 Pfund Sterling: 16.000 Soldaten – die englisch-indischen und die Truppen Schah Schudschahs – in Afghanistan mussten bezahlt werden; weitere 3.000 lagen in Sind und am Bolanpaß; Schah Schudschahs königlicher Prunk, die Gehälter seiner Beamten und alle Ausgaben seines Hofes und seiner Regierung wurden vom indischen Schatzamt bezahlt; und schließlich wurden die afghanischen Häuptlinge aus derselben Quelle subsidiert oder vielmehr bestochen, um zu verhindern, dass sie Unheil stifteten. Macnaghten wurde mitgeteilt, dass es unmöglich wäre, weiterhin diese hohen Geldausgaben beizubehalten. Er versuchte, Einschränkungen vorzunehmen, aber der einzig mögliche Weg, sie zu erzwingen, bestand darin, die Zuwendungen für die Häuptlinge zu beschneiden. An demselben Tage, an dem er das versuchte, stifteten die Häuptlinge eine Verschwörung zur Ausrottung der Briten an, und so war es Macnaghten selbst, der zur Einigung jener aufständischen Kräfte beitrug, die bislang einzeln und isoliert und ohne Übereinstimmung gegen die Eindringlinge gekämpft hatten; übrigens steht ebenfalls fest, dass der Hass auf die britische Herrschaft unter den Afghanen zu dieser Zeit seinen Höhepunkt erreicht hatte.« (Friedrich Engels, Afghanistan, in: Marx-Engels-Werke [MEW] 14, S. 78f.)
[2] Siehe hierzu ausführlicher: Friedrich Steinfeld (2016): Religiöser und politischer Fundamentalismus im Aufwind. Die Sehnsucht nach Identität, Hamburg, insbesondere die Seiten 38ff. sowie 139ff.
[3] Das Programm für Stabilität und Erneuerung. Gemeinsam für ein modernes Deutschland, abrufbar im Internet, S. 8
[4] Zur umfassenden und fundierten Kritik des außenpolitischen Erscheinungsbildes der Partei DIE LINKE siehe Paul Schäfer: Progressive Außenpolitik, in: Sozialismus.de Supplement zu Heft 5/2021
21. August 2021 Friedrich Steinfeld, aus: sozialismus