Bürgergeld – Wir schlagen Alarm!
Wir schlagen Alarm! – Tacheles Sozialhilfe e.V.
Wir schlagen Alarm!
KÜRZEN STATT HELFEN!
DIE NEUE GRUNDSICHERUNG GEFÄHRDET EXISTENZEN!
Die fünf gravierendsten Eingriffe des Referentenentwurfs zum 13. SGB-II-Änderungsgesetz aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom 16.10.2025
Das mit der „Neuen Grundsicherung“ gesetzliche Verschärfungen auf Bürgergeldempfänger zukommen würden, war abzusehen. Dass aber bewusst die Gefährdung von Existenzen hingenommen und die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts unterlaufen werden, ist nicht hinnehmbar. Daher wollen wir bereits in einer frühen Phase der Gesetzgebung die aus unserer Sicht fünf gravierendsten Punkte herausarbeiten und öffentlich machen. Diese Regelungen führen zu einer Abkehr von sozialrechtlichen Mindeststandards und etablierten Schutzmechanismen und dürfen nicht verabschiedet werden.
Die fünf gravierendsten Eingriffe:
- Direkte Folge EINES versäumten Termins:
VerpflichtungsverwaltungsakteVerpasst ein Leistungsempfänger auch nur EINEN einzigen Termin, kann das Jobcenter „durchregieren“, indem es jedwede Verpflichtung per Verwaltungsakt festlegt (§ 15b Abs. 1 S. 1 SGB II-E). Das Jobcenter kann in einem solchen Verpflichtungsverwaltungsakt bestimmen, welche Eigenbemühungen die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person in welcher Häufigkeit mindestens zu erbringen hat und in welcher Form und Frist diese nachzuweisen sind (§ 15b Abs. 4 SGB II-E). Ebenso kann bestimmt werden, dass der Leistungsbeziehende eine Arbeitsstelle, eine Ausbildung, ein gefördertes Arbeitsverhältnis oder einen Integrations- bzw. Sprachkurs aufzunehmen oder fortzusetzen hat.Eine Rückkehr zum normalen Vorgehen auf Grundlage eines Kooperationsplans ist nicht vorgesehen. Ein verpasster Termin kann demnach zum dauerhaften Verlust der partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf Augenhöhe führen – falls diese überhaupt noch gewollt ist – und eröffnet dem Jobcenter die Möglichkeit, Leistungsbeziehende mit schikanösen Pflichten pro Pflichtversäumnis mit 30 Prozent der Regelleistung faktisch dauerhaft zu sanktionieren. - Die neue Mitwirkungspflicht für Leistungsberechtigte:
umfassende Nachweispflichten bei Bewerbungen
Leistungsberechtigte sind nach dem Gesetzentwurf nicht mehr „nur“ verpflichtet, sich um eine Arbeit zu bemühen, sondern dies auch nachzuweisen. Diese Pflicht des fristgerechten Nachweises in einer vom Jobcenter vorgegebenen Form, wird gesetzlich festgeschrieben und zu einem eigenen Sanktionstatbestand (§ 31b Abs. 1 Nr. 1 SGB II-E i.V.m. §15b Abs. 4 SGB II-E)
Zwei Problemlagen:
Selbst, wenn Leistungsberechtigte sich beworben und nur die rechtzeitige Vorlage des Nachweises verpasst haben, können sie sanktioniert werden. Bisher hat ein verspäteter Nachweis der Pflichterfüllung, sich zu bewerben, ausgereicht, um eine Sanktion zu beenden oder zu verhindern, da die Pflichtverletzung widerlegt wurde – entfällt der Grund der Sanktion, ist diese zurückzunehmen.
Nach dem Gesetzentwurf ist die Nichterbringung eines form- und fristgerechten Nachweises selbst eine sanktionsbewährte Pflichtverletzung. Wenn Leistungsberechtigte im Nachhinein beweisen, sich doch beworben zu haben, bleibt der nicht form- oder fristgerechte Nachweis trotzdem bestehen und kann mit einer 30-Prozent-Leistungskürzung sanktioniert werden. Demnach drohen Sanktionen, obwohl Betroffene sich um einen Job bemüht haben – das dürfte deren Motivation erheblich einschränken.
Die neue terminierte Nachweispflicht führt zu einem weiteren Problem: Bisher enden Sanktionen, wenn die auferlegte Pflicht nachträglich erfüllt wird (§ 31b Abs. 2 S. 2 SGB II). Nach dem geplanten Recht, soll die Rücknahme der Sanktion frühestens nach einem Monat erfolgen (§ 31b Abs. 3 SGB II-E). Bei einer Verletzung der Nachweispflicht, die nun für sich genommen eine sanktionsbewährte Pflichtverletzung darstellt, ist das aber ohne Zeitmaschine nicht mehr möglich. Selbst wenn alle Bewerbungsbemühungen erfüllt werden, würde die dreimonatige Sanktion bestehen bleiben, weil die erste Nachweisfrist nicht eingehalten wurde. Leistungsberechtigte sollen demnach auch dann weiter sanktioniert werden, wenn sie sich um einen Job bemühen und dies entsprechend der Vorgaben des Jobcenters nachweisen.
- Abkehr von einer Sanktion mit dem Ziel einer
Verhaltensänderung: Sanktionen als Strafe zur Ahndung von
Fehlverhalten und keine ergänzenden Sachleistungena)Die Trennung von Verhalten und Sanktion führt zu der Frage, warum Leistungsberechtigte dann in diesen drei Monaten ihre Bewerbungen eigentlich noch nachweisen oder sich in diesem Zeitraum überhaupt bewerben sollten, wenn sie selbst durch „Pflichterfüllung“ die Sanktion nicht beenden können.Damit hat in der „Neuen Grundsicherung“ die Sanktion als Grundrechtseingriff nicht mehr das Ziel einer Verhaltensänderung bei Betroffenen, sondern sie ist eine von dieser Zielsetzung losgelöste starre Strafe, die repressiv Fehlverhalten ahnden und mit Angst vor der „Tat“ abschrecken soll. Das steht jedoch der Intention des „Sanktionsurteils“ des BVerfG (BVerfG 5.9.2019 – 1 BvL 7/16, 3. Rn 131) diametral entgegen.
Das geschieht zudem nicht (mehr) abgestuft, sondern sofort mit einer Kürzung in Höhe von 30 Prozent des Regelbedarfs für drei Monate (3 x 168,90 € = 506,70 €) für einen verpassten Nachweistermin über Bewerbungen, obwohl die leistungsberechtigte Person sich doch eigentlich beworben hat?
Und hier geht es NICHT um einen der viel diskutierten „Totalverweigerer“, sondern um die alleinerziehende Mutter, deren Kind krank wurde, oder denjenigen, der für den Zugang zum Internet nur über ein Handy verfügt, das im falschen Moment kaputtgegangen ist, oder um einen Arbeitnehmer in Teilzeit, der spontan noch eine Schicht von einem kranken Kollegen übernommen hat, um ein höheres Einkommen zu erzielen. In all diesen Fällen ist nicht sicher, ob Mitarbeitende des Jobcenters die Ursache für einen verspätet eingereichten Nachweis der Eigenbemühung als wichtigen Grund anerkennen würden, um den Verzicht auf die drohende Sanktion zu rechtfertigen.
Aber auch bei der 100-Prozent-Sanktion für „Totalverweigerer“ wird der Gedanke der Bestrafung fortentwickelt. Diese Sanktion endet bisher nach den Vorgaben des oben genannten BVerfG-Urteils (Rn 209 „solange“), sobald die Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme nicht mehr besteht. Dem Gesetzentwurf zufolge soll jedoch aus Gründen der „Verwaltungsvereinfachung“ eine Mindestsanktionsdauer von einem Monat eingeführt werden.
Dies würde auch gelten, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Sanktion die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme gar nicht mehr bestehen würde, Leistungsberechtigte also tatsächlich nicht mehr die Chance haben, durch ihre Verhaltensänderung die Sanktion abzukürzen. Der Regelsatz würde trotzdem komplett entzogen – und das für die Mindestdauer von einem Monat.
Durch die Einführung einer Mindestdauer geht es mithin nicht mehr darum, mittels Sanktion eine Verhaltensänderung zu erreichen, sondern ein Fehlverhalten mit einer abschreckenden Strafe zu beantworten.
b) Wir weisen zudem darauf hin, dass in Fällen von Leistungskürzungen von mehr als 30 Prozent keine ergänzenden Sachleistungen, also Lebensmittelgutscheine, mehr vorgesehen sind (§ 31a Abs. 3 SGB II in der Fassung bis 8.11.2019). Dadurch wird das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum, nach dem einheitlich die physische und soziokulturelle Existenz gesichert werden muss, entgegen den Maßgaben des BVerfG (BVerfG vom 5.11.2019 – 1 BVL7/16, 1. Leitsatz) gezielt unterlaufen.
- Keine Chance mehr auf eine neue Wohnung:
Verschärfungen bei den Wohnkosten und Nachweispflichten
für Vermieter
Auch bei den Unterkunftskosten sind erhebliche Verschärfungen vorgesehen. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass die geplanten Regelungen nicht nur das SGB II betreffen, sondern auch das SGB XII – also Beziehende von Sozialhilfe sowie von Grundsicherung im Alter und bei voller Erwerbsminderung, oft alte, kranke und behinderte Menschen.
a) Begrenzung der Unterkunftskosten auf das 1½-fache der örtlichen Mietobergrenze
Im SGB II und SGB XII galt bislang die Regel, dass die Unterkunftskosten zunächst immer in tatsächlicher Höhe zu übernehmen sind (§ 22 Abs. 1 S. 1 SGB II, § 35 Abs. 1 S. 1 SGB XII). Damit soll sichergestellt werden, dass niemand plötzlich durch nur teilweise Zahlung der Miete unverhältnismäßig belastet wird. Niemand sollte seine Wohnung sofort verlieren, nur weil das Jobcenter oder Sozialamt feststellt, dass die Miete „zu hoch“ ist. Die Unterkunft gehört zum menschenwürdigen Existenzminimum, das durch Artikel 1 Abs. 1 i.V.m. Artikel 20 Abs. 1 Grundgesetz geschützt ist.
Nach den herrschenden Rechtsgrundsätzen wird Leistungsberechtigten eine Frist eingeräumt, um unangemessene Unterkunftskosten zu senken (z.B. durch Umzug, Untervermietung oder Verhandlungen mit dem Vermieter). Erst nach Ablauf dieser „Kostensenkungsfrist“ darf das Jobcenter bzw. Sozialamt die Kosten auf die als angemessen geltende Höhe begrenzen (§ 22 Abs. 1 S. 7 SGB II, § 35 Abs. 3 SGB XII).
Mit der geplanten Neuregelung sollen die Unterkunftskosten ab dem ersten Tag des Leistungsbezugs auf das 1½-fache der örtlichen Mietobergrenze begrenzt werden (§ 22 Abs. 1 S. 5 SGB II-E, § 35 Abs. 3 S. 2 SGB XII-E). Laut Gesetzesbegründung soll damit „unverhältnismäßig hohen Aufwendungen vorgebeugt“ und „dem Missbrauch der Leistungen durch überhöhte Mieten für Kleinstwohnungen entgegengewirkt“ werden.
Das Gegenteil ist der Fall: Mit der Regelung sollen Unterkunftskosten faktisch gedeckelt werden. Menschen, die unverschuldet in den Leistungsbezug nach SGB II oder SGB XII geraten, wird damit von vornherein das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum entzogen – ohne Möglichkeit auf realistische Selbsthilfe.
Die vorgesehene Ausnahmeregelung, nach der „im Einzelfall unabweisbar höhere Aufwendungen für die Unterkunft anerkannt werden können“ (§ 22 Abs. 6 S. 6 SGB II-E, § 35 Abs. 1 S. 8 SGB XII-E), ist zu unbestimmt. Die bisherigen Erfahrungen mit sozialrechtlichen „Einzelfallregelungen“ deuten darauf hin, dass Jobcenter und Sozialämter hier restriktiv verfahren und individuelle Härtefallgründe regelmäßig nicht anerkennen werden.
Vor dem Hintergrund, dass die sogenannte „Wohnkostenlücke“ im Jahr 2024 stark gestiegen ist – das heißt, bei 12,6 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften die Unterkunftskosten nicht in voller Höhe übernommen wurden (vgl. BT-Drs. 21/1005 vom 31.07.2025), ist mit einer erheblichen weiteren Steigerung der von den Sozialleistungsträgern NICHT übernommenen Unterkunftskosten zu rechnen. Besonders dramatisch dürfte die geplante Regelung im SGB XII ausfallen, also bei alten, kranken und behinderten Menschen, die oft keine Chance haben, eine Kostensenkung durchzuführen.
Mit der Regelung werden Beziehende von SGB-II- und SGB-XII-Leistungen von der Regierung unter den Generalverdacht des Missbrauchs gestellt, das ist absurd, es entspricht nicht der Realität, aber offenbar der Position der Regierung.
b) Auskunfts-, Mitwirkungs- und Nachweispflichten sowie Formularpflicht für Vermieter
Vermieter sollen künftig verpflichtet werden, dem Jobcenter und dem Sozialamt Auskünfte über die Mietsache, diesbezügliche Abrechnungsdetails sowie die mit der Vermietung verbundenen Kosten zu erteilen.
Sie haben den jeweiligen Ämtern „auf Verlangen insbesondere über die Höhe etwaiger Entgelte, die Dauer, Nutzerzahlen und Abrechnungsmodalitäten“ mitzuteilen sowie Beweismittel vorzulegen oder der Vorlage durch Dritte zuzustimmen (§ 60 Abs. 6 S. 1, Abs. 7 SGB II-E, § 117 Abs. 5 u. Abs. 6 SGB XII-E). Darüber hinaus sind sie verpflichtet, die von den Behörden bereitgestellten Formulare zu verwenden (§ 60 Abs. 8 SGB II-E, § 117 Abs. 7 SGB XII-E). Kommen Vermieter diesen Pflichten nicht nach, handeln sie ordnungswidrig und können mit Bußgeldern bis zu 5.000 Euro belegt werden (§ 63 Abs. 2 SGB II-E). Im SGB XII gibt es keine entsprechende Obergrenze (§ 117 Abs. 9 SGB XII-E).
Wird diese Auskunfts-, Mitwirkungs- und Formularpflicht unter Wohnungsgebern bekannt, ist zu erwarten, dass sie künftig noch weniger bereit sein werden, an Leistungsbeziehende nach SGB II oder SGB XII zu vermieten.
In Verbindung mit dem geplanten rigiden, verfassungswidrigen Sanktionsrecht – mit ohnehin schon häufigen Leistungsversagungen wegen vermeintlich fehlender Mitwirkung und vorläufigen Zahlungseinstellungen – wird dies den Wohnungsmarkt für leistungsberechtigte Menschen weiter verschließen.
Diese Regelung muss ersatzlos gestrichen werden, sie hat nichts mit der Bekämpfung von Missbrauch zu tun. Dafür wären die im Gesetzesentwurf vorgesehenen Regelungen zur Anwendung der Mietpreisbremse bei entsprechenden Unterstützungsangeboten der Behörden der richtige Ansatz.
Fazit
Insgesamt hat die „Neue Grundsicherung“ mit einer echten Grundsicherung im Sinne von Existenzsicherung nichts mehr zu tun. Sie ist vielmehr ein Frontalangriff auf Leistungsberechtigte, deren Existenz auf vielen Ebenen direkt bedroht wird.
Wir schlagen daher Alarm und fordern Wohlfahrts- und Sozialverbände, Gewerkschaften, Kirchen sowie alle Organisationen, die die Interessen armer und einkommensschwacher Menschen vertreten, ebenso wie die demokratische Öffentlichkeit und die Parteien auf, die geplanten Neuregelungen entschieden zu kritisieren und dafür zu sorgen, dass sie nicht wirksam werden.
Wir möchten auch betonen, dass solche gesellschaftlich spaltenden Gesetze dazu führen werden, dass Menschen dauerhaft das Vertrauen in Regierung und Staat verlieren. Diese Regelungen sind mithin ein gefährlicher Schritt hin zur Demontage von Sozialstaat und Demokratie und müssen dringend verhindert werden.
Hinweis: Steht hinter einem Paragrafen ein „-E“, handelt es sich um die Entwurfsfassung des geplanten 13. SGB II-Änderungsgesetzes.
Wuppertal, den 4.11.2025
Frank Jäger, Sozi Simon, Harald Thomé, Tacheles e.V.
Materialien:
- Alarmpapier zum Download
- Referentenentwurf 13. SGB II-ÄndG des BMAS: https://t1p.de/id4k1
- Konsolidierte Lesefassung der geplanten Gesetzesänderungen: https://t1p.de/u2enf











