Étienne Balibar Griechenland: Fünf Gründe einer französischen Leidenschaft
Warum verfolgen die Menschen in Frankreich die nicht endenden Episoden der »griechischen Krise« mit einer Leidenschaft, als ob ihr eigenes Schicksal davon abhängt? Aber es ist tatsächlich so. Jeder von uns hat dafür seine persönlichen, beruflichen und intellektuellen Motive. Im Kern ist die Abhängigkeit politisch:
Es geht um die politischen Tageskämpfe, um ihren Widerstand gegen das klassische Politik- und Regierungsgeschäft (»gouvernance«), und um ihre Fähigkeit, den Platz zurückzuerobern, der einer Gesellschaft der freien Menschen angemessen ist.
Ich formuliere dazu fünf Hypothesen, die ich für diskussionswürdig erachte, für die aber nur ich verantwortlich bin.
Erstens: Die Menschen in Frankreich (und in anderen Ländern) haben mit Leidenschaft den klugen, hartnäckigen und mutigen Kampf einer Regierung und ihrer Führung verfolgt, die das ihnen erteilte Mandat entschlossen respektieren wollen. Uns ist erst schrittweise Folgendes immer deutlicher geworden: Das Ziel der »Institutionen« und der »großen Koalition«, die zur Zeit Europa regiert, ist weder, Griechenland aus der Katastrophe herauszuführen, in die sie das Land mit dem »Rettungsprogramm« hineingestürzt haben, noch ihm bei der Reform seiner »korrumpierten« Strukturen zu helfen. Das wahre Ziel war und ist, sie zu einer erniedrigenden Verzichtserklärung zu zwingen, damit das Beispiel nicht zum Flächenbrand wird. Nach dem Referendum haben die Menschen in Frankreich zudem begriffen, dass die von Brüssel und der Eurogruppe etc. verbreiteten und in der Mehrheit unserer Presse reproduzierten Informationen substanzlos waren. Es gab Alternativen!
Zweitens: Die französische Bevölkerung beginnt, die Dimension der Reaktivierung der Demokratie zu begreifen, von der die Legitimität der Regierungsmacht abhängt, die uns auf europäischer und nationaler Ebene repräsentiert. Die GriechInnen liefern dazu die Folie, sie werfen ein Problem auf, das sie natürlich nicht alleine lösen können. Das seit Wochen penetrant wiederholte Argument: »Der Wille der Bevölkerung einer Nation kann Verträge nicht außer Kraft setzen« ist nun geworden zu: »Er kann nicht mehr wert sein als der Wille von 18 anderen Nationen.« Das ist zwar richtig, vorausgesetzt allerdings, dass dieser Wille ermittelt wird, und zwar in den aktiven Formen, die Tsipras und seine Regierung etabliert hat. Das Niveau der Anforderungen an Demokratie in Europa steigt.
Drittens: Die Menschen in Griechenland verkörpern eine genuin linke Form des Widerstands gegen die vorherrschende Form der Europäischen Einigung. Sie zerschmettern das Stereotyp des »Populismus« (oder der »Extremismen«, die sich verdichten in der Demagogie und grundsätzlichen Feindschaft gegen die Europäische Einigung). Tsipras ist pro-europäisch und gegen die finanzmarktgetriebene Politik. Das gibt es in Frankreich nicht, wo dieser Widerstand eher in Richtung Front National geht. Das muss uns interessieren und herausfordern.
Das wirft die Frage auf: Welche Politik der Linken ist heute gefordert? Welche Sprache, welche Kampfesformen, welche Ziele braucht eine Linke, die dieses Namens im 21. Jahrhundert würdig ist? In Frankreich durchleben wir zur Zeit eine Phase der Depression zwischen einer mit dem vorherrschenden Liberalismus verbandelten Linken, die sämtliche Verpflichtungen der Vergangenheit vergessen hat, und einer gespaltenen, oft geschwätzigen oder zögerlichen »Linken der Linken«. Auf der Suche nach Inspiration schauen wir in Richtung Syriza oder Podemos, wir sollten aber eher von Wettbewerb (émulation) sprechen, weil es kein für alle identisches Modell gibt.
Viertens: In Rechnung gestellt, dass das Referendum nichts löst, sondern nur einige Karten neu mischt und die Herausforderungen zuspitzt, geht es bei Syrizas Widerstand gegen das tödliche Diktat der Troika und bei dem Kampf, den sie nun führen muss, darum zu zeigen, dass in der Ökonomie Alternativen existieren, dass die Ökonomie selbst Politik ist. Die ganz große Mehrheit der Ökonomen – den IWF eingeschlossen – weiß, dass die Schulden restrukturiert werden und der Weg der Austerität verlassen werden müssen. Die große Frage ist aber die nach einer abgestimmten und solidarischen Entwicklung der Gesellschaften des europäischen Kontinents. Syriza wirft mit Macht exakt dieses Problem auf, das in einem Frankreich, das in Richtung Abstieg und Ungerechtigkeit gleitet, auf kräftige Resonanz stößt.
Fünftens schließlich (und das nicht das geringste Problem): Tsipras hat zusammen mit seiner Regierung und der griechischen Bevölkerung unmissverständlich erklärt, dass ihr Ziel nicht das Ende Europas ist (in das uns im Gegenteil der Dogmatismus und die Verbissenheit unserer gegenwärtig »Regierenden« stürzt), sondern seine Refundierung auf neuen Grundlagen. Der »konstutive Moment«, von dem einige unter uns gesprochen haben, ist exakt der Punkt, vor dem wir stehen. Er hat aber nur dann die Chance einer Materialisierung, wenn sich die öffentliche Meinung auf dem gesamten Kontinent ziemlich kräftig und ziemlich schnell ändert. Nur dann kann der Grexit (d.h. der Rausschmiss einer Nation aus der Gemeinschaft) vermieden und danach die Frage gestellt werden: Welches Europa? Für wen? Mit welchen Mitteln? So wie die griechische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit sind auch wir für die Europäische Einigung, aber wir wollen sie ganz anders. Wir wissen, dass wir diese Chance nicht verpassen dürfen. Danke an Tsipras, sie uns zu geben.
Étienne Balibar ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Paris Nanterre und Distinguished Professor an der University of California, Irvine. Er ist als Schüler und enger Mitarbeiter von Louis Althusser u.a. Co-Autor von Lire le Capital (überarbeitete deutsche Neuausgabe Das Kapital lesen, Münster 2014) und Autor von Für Althusser (Mainz 1994). Zudem ist er seit Jahren in der Unterstützung illegaler Flüchtlinge aktiv.
Erschienen in: Libération vom 7.7.2015; aus dem Französischen von Horst Arenz.