Bezahlkarte für Geflüchtete: »Wir können gern eine für Politiker einführen«

HeHessen: Bündnis hilft Geflüchteten, trotz Bezahlkarte an Bargeld zu kommen. Ein Gespräch mit Desiree Becker Interview: Gitta Düperthalssen: Bündnis hilft Geflüchteten, trotz Bezahlkarte an Bargeld zu kommen. Ein Gespräch mit Desiree Becker Interview: Gitta Düperthal Auch das von CDU und SPD regierte Bundesland Hessen führt aktuell ...

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Zwei Koalitionsverträge mit dem BSW: »Es ist die Brombeerzeit, die dunkle«

Was war das für ein Anfang. Zuerst wurde eine Partei gespalten, dann eine neue gegründet und die trug fortan den Namen ihrer Vorsitzenden. Ihr Bildnis strahlte den Wählenden in Thüringen ebenso wie zeitgleich in Brandenburg und Sachsen auf tausenden Plakaten entgegen; andere Köpfe dieser Partei ...

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Warnstreiks bei VW: »Einer der härtesten Konflikte, die Volkswagen je gesehen hat«

Die Gewerkschaft IG Metall und der Betriebsrat haben beim Automobil-Konzern VW zu Warnstreiks aufgerufen, um so den Druck in der aktuellen Tarifrunde zu erhöhen. Die war am Donnerstag ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Bereits in der Nacht zum Sonntag hatten rund 300 Volkswagen-Beschäftigte und Metaller ...

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Nach der Trump-Wahl: Auf ultrarechtem Kurs

Die künftige US-Regierung schwenkt mit mehreren designierten Ministern auf einen ultrarechten, hart antichinesischen Kurs ein – in einer Zeit, in der Deutschland in wachsende Abhängigkeit von den USA geraten ist. 15 Nov 2024 WASHINGTON/BERLIN (Eigener Bericht) – Die künftige Regierung der USA, des wichtigsten NATO-Verbündeten der Bundesrepublik, wird neben ...

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Zu Hintergründen des Wahlergebnisses - Trump wird wieder Präsident der USA

Das Rennen zwischen dem Republikaner Donald Trump und der Demokratin Kamala Harris um die nächste Präsidentschaft in den USA ist entschieden, der Sieger heißt Trump. Stand 6.11. 13:30 Uhr werden mindestens 276 Wahlleute für ihn stimmen. Auch die beiden Kammern des amerikanischen Kongresses waren hart ...

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Die Gegenstrategien sind noch nicht ausreichend: Hochwasser als Folge der Klimakrise

Bei den Überschwemmungen in Teilen Österreichs, Polens, Rumäniens und Tschechiens sind bisher mindestens 18 Menschen ums Leben gekommen, kilometerweit sind Felder und Straßen überschwemmt, Keller und Häuser vollgelaufen, Dämme und Deiche zerstört. »Die Hochwasser, die wir sehen, sind bedrückend«, findet Bundeskanzler Olaf Scholz. »Wir werden ...

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Gießener Linke fordert Wohnraumleerstandkataster

Der hessische Wirtschaftsminister Kaweh Mansoori hat entschlossene Maßnahmen gegen den Missstand leerstehender Wohnungen angekündigt. „Die neuen Zahlen mit fast zwei Millionen leerstehenden Wohnungen in Deutschland vor allem in Großstädten zeigen, wie groß der Handlungsbedarf ist“, sagte Mansoori am Freitag in Berlin. In Hessen stehen über 122.000 Wohnungen leer. In Frankfurt gibt es fast 13.000 leerstehende Wohnungen, ...

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Gießener Linke fordert Verzicht auf den Bau der Ortumgehung Reiskirchen (B49)

Im Januar 2025 soll der seit Jahrzehnten größte Straßenbau im Kreis Gießen starten: Die geplante Südumgehung um Reiskirchen und Lindenstruth, also ein Neubau der B49 mitten durch eine ökologisch wertvolle Landschaft und direkt am Rand der geschützten Jossolleraue. Mehrere geschützte Arten wurden dafür „vergrämt“ (Begriff aus ...

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Bündnis für Verkehrswende: IG Metall an der Seite von Fahrrad und Schiene

IG Metall überrascht mit neuem Bündnis. Gemeinsam mit Fahrrad- und Schienenverbänden fordert sie eine Verkehrswende. Doch wie reagieren die Beschäftigten? Die IG Metall feiert derzeit ihr 75. Jubiläum. Die Arbeitswelt hat sich seit Gewerkschaftsgründung häufig verändert. Jetzt stehen wichtige Industriesparten wie Auto, Maschinenbau und Stahl vor ...

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Diplomatie jetzt! Appell für Frieden in der Ukraine

Wir – politische Aktivistinnen und Aktivisten, Intellektuelle und Bürgerinnen und Bürger –, die diesen Aufruf für eine gemeinsame, universelle und internationale diplomatische Initiative für den Frieden in Europa und in der Welt unterzeichnet haben, sind von Folgendem überzeugt: Das Blutvergießen und die Zerstörung in der Ukraine ...

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Aggressiv in der Krise

Die Türkei vor der Parlamentswahl: Das Land versinkt in Terror und Krieg. Ursache sind die Großmachtträume des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan

Die Türkei befindet sich in einer die gesamte Gesellschaft umfassenden Krise. Seit den Wahlen am 7. Juni 2015 hat sie sich dramatisch verschärft. Das Land droht seither in Gewalt, Terror und Krieg zu versinken. Nun stehen für den kommenden Sonntag, den 1. November, Neuwahlen an. Angesichts der Umstände ist kaum von einer Abstimmung unter demokratischen Verhältnissen zu sprechen. Dennoch werden sich die Ergebnisse – sofern die Wahl nicht manipuliert wird – wohl kaum vom Resultat des 7. Juni unterscheiden. Die Positionen der Parteien sind dieselben, die Risse in der Gesellschaft haben sich vertieft, die Fronten verhärtet. Sollte die Demokratische Partei der Völker (HDP) den Einzug ins Parlament erneut schaffen, was wahrscheinlich ist, wären die Pläne von Präsident Recep Tayyip Erdogan zum Umbau der politischen Strukturen in ein auf ihn zugeschnittenes Präsidialsystem erneut gescheitert.

Um die gesellschaftlichen Dynamiken hinter den jüngsten Entwicklungen und die Bedeutung dieser Wahl erfassen zu können, ist eine Analyse der politisch-kulturellen und ökonomischen Entwicklungen der Türkei in den letzten Jahrzehnten angebracht.
Aufstieg der AKP

Gegen Ende der 70er Jahre konnte die Linke Millionen Menschen mobilisieren und führte einen durchaus erfolgreichen Krieg gegen die faschistischen Paramilitärs – vornehmlich gegen die Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalen Bewegung) –, die der Staat gezielt einsetzte, um linke Organisationen zu bekämpfen. Die Arbeiterklasse war sehr gut mobilisiert und führte einen erfolgreichen ökonomischen und politischen Kampf. Kein Wunder also, dass der Großkapitalist Vehbi Koç (1901–1996) die Periode von 1960 bis zum 12. November 1980, also bis zum Militärputsch, gegenüber dem Führer dieses Staatsstreichs, Kenan Evren (1917–2015), als einen Alptraum bezeichnete, der sich unter keinen Umständen wiederholen dürfe. Als nämlich absehbar war, dass die faschistischen Paramilitärs den Bürgerkrieg nicht gewinnen würden, intervenierte das Militär mit einem Putsch, gegen den die Linke machtlos war.

Mit Unterstützung der USA, des türkischen Kapitals, rechter Intellektueller und anderer Eliten setzte das Militär zu einer Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse an. Das Reformierungsprojekt wurde unter dem ersten zivilen Ministerpräsidenten nach dem Putsch, Turgut Özal (1983–1989), ab November 1983 vertieft und geriet in den 90er Jahren aufgrund des eskalierenden Krieges in den kurdischen Gebieten der Türkei und der Unfähigkeit der Machthaber in die Krise. Das Hauptanliegen der herrschenden Klasse bestand nach dem Putsch darin, die organisierte Arbeiterbewegung zu zerschlagen sowie die Wirtschaft nach klassisch neoliberaler Art auszurichten (siehe jW-Thema vom 20.5.2010). Auf der einen Seite wurden linke Gewerkschaften aufgelöst und verboten sowie das Streik- und Gewerkschaftsrecht massiv eingeschränkt und unter staatliche/militärische Kontrolle gebracht. Andererseits baute wurde das Sozialsystem zunehmend zusammengeschnurrt, Privatisierungen in Gang gesetzt und die Finanzmärkte liberalisiert. Der ideologischen Untermauerung diente eine bestimmte Interpretation des Islam, der vom Militär selbst »rehabilitiert« und im Rahmen des Leitmotivs einer »türkisch-islamischen Synthese« gesamtgesellschaftlich verbreitet wurde.

Die skizzierten Maßnahmen und die Krise in den 90er Jahren geben den Hintergrund für den Aufstieg der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ab. Sie kam 2002 an die Macht. Im Gegensatz zu ihrer Vorläuferin, der Refah Partisi (RP, Wohlstandspartei) unter Necmettin Erbakan (1926–2011), agierte die AKP weniger sektiererisch, kooperierte mit dem US-Imperialismus und verfolgte ein moderat-islamisches, gleichzeitig aggressiv neoliberales Programm. Mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds wurde rasch eine wirtschaftliche Umstrukturierung betrieben, die unter Özal nur ansatzweise in Angriff genommen worden war. Das Arbeitsrecht wurde »liberalisiert«, staatliche Schlüsselindustrien wurden privatisiert, ausländisches Kapital floss in großen Mengen in Form von Investitionen und Krediten ins Land. Andererseits ersetzte die AKP-Regierung erkämpfte soziale Rechte durch individuelle, an Leistungen gebundene Ersatzleistungen und durch den Aufbau der islamischen Wohlfahrtspflege.

Parallel hierzu nahm die AKP den Kampf mit dem aus ihrer Sicht überholten Staatsapparat auf. Die Dominanz des Militärs und der an es gebundenen Bürokratie bei allen zentralen Anliegen wurde zu einem Hemmschuh der Erneuerung kapitalistischer Herrschaft und Akkumulation. Deshalb mussten diese Fesseln gelöst werden. In der Folge büßte das Militär seine dominante Stellung im Staatsapparat ein – auch wenn es noch heute über einen gewissen Einfluss verfügt. Es war diese Staatsumbauphase zwischen 2002 und 2009, in der sich die AKP »liberal« und »freiheitlich« gab, um möglichst breite Zustimmung im Volk zu erringen. Das gelang ihr auch. Fast alle liberalen Linken der Türkei, die jetzt der AKP Neoosmanismus, Autoritarismus und ähnliches vorwerfen, verteidigten sie damals.

Die Herrschaft des Militärs über den politischen Apparat wurde Schritt für Schritt zugunsten der Stärkung der Exekutive, vor allem von Polizei und Justiz, und letztlich auch der Stärkung der Regierungspartei zurückgedrängt. Das Referendum von 2010, das die Macht des Militärs noch weiter einschränkte, wurde als Erfolg der Demokratisierung gefeiert, obwohl mittels dieser Änderung die Dominanz der Exekutive über Legislative und Judikative in der Verfassung verankert wurde.

Überhaupt kann dieser »Volksbeschluss« als Wendepunkt bezeichnet werden. Das Militär war besiegt, es blieben nur mehr Reste einer unabhängigen Justiz übrig. Mit all diesen Maßnahmen legte die AKP ihre »liberale« Maske ab, sie wurde innen- wie außenpolitisch aggressiver. Sie wollte jene Partei sein, die die relativ eigenständigen, »subimperialistischen« Interessen des türkischen Kapitals durchsetzt. Druck auf die Werktätigen wurde auch in Gestalt eines konservativen Autoritarismus ausgeübt, demzufolge Frauen drei Kinder gebären sollten, Alkohol nur noch eingeschränkt konsumiert werden konnte und überhaupt rigide Moralvorstellungen verbreitet wurden. Darüber hinaus sorgte eine Feindbildgenerierung dafür, dass von den eigenen Vergehen abgelenkt werden konnte. Schuld waren/sind immer die anderen: Linke, Terroristen, ausländische Mächte. Zudem wähnte sich die AKP, die anders als die früheren kemalistischen Regimen eine aktive Außenpolitik betrieb, stark genug, externe Angelegenheiten eher mit Säbelgerassel denn mit Diplomatie erledigen zu können, ohne dabei die eigenen Stellung in der Region zu gefährden.

Aufbrechende Widersprüche

Die erlangte Machtfülle machte die AKP allerdings trunken, sie schätzte ihre eigene Kraft nicht richtig ein und erwies sich als taktisch zu unflexibel, die Türkei in eine ernstzunehmende Regionalmacht umzuwandeln. Sie hielt an den Mitte 2012 an die Macht gekommenen Muslimbrüdern in Ägypten fest, noch lange nachdem diese ein Jahr später gestürzt wurden und die imperialistischen Mächte längst schon wieder auf die alte Macht mit dem Militäroberbefehlshaber und späteren Präsidenten Abd Al-Sisi gesetzt hatten. Die politische Entwicklung in Syrien wurde von Erdogan völlig falsch eingeschätzt: Die AKP warb für einen Angriff auf das Land, den sie nicht hätte allein führen können. Sie blieb weiterhin aggressiv auf Kriegskurs, als die USA 2013 die geplante direkte Intervention in Syrien wegen der Vetos von Russland und China im UN-Sicherheitsrat abblasen mussten. Andererseits avancierte die Türkei zu einem der logistischen und militärischen Hauptunterstützer dschihadistischer Gruppierungen wie »Islamischer Staat« (IS) und Al-Nusra Front.

Die innenpolitischen Spannungen, die mit dem zunehmenden Autoritarismus und den außenpolitischen Entscheidungen einhergingen, entluden sich dann 2013 bei den Protesten einer breiten außerparlamentarischen Opposition gegen die AKP im Gezi-Park in Istanbul. Anstatt zu beschwichtigen, reagierte Erdogan konfrontativ, was letztlich zum endgültigen Bruch mit breiten Teilen der Bevölkerung führte. Spätestens seitdem begannen bestimmte Teile des Kapitals, zum Beispiel die Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute (TÜSIAD), an der Fähigkeit der AKP zu zweifeln. Die wiederum überschätzte weiterhin ihre Bedeutung und agierte zunehmend irrationaler. Die Hegemonie der herrschenden Klasse aufrecht zu erhalten wurde so immer schwieriger.

Ende 2013 brach auch der inoffizielle Partner der AKP in den Staatsapparaten, die Bewegung des Predigers Fetullah Gülen, mit der AKP. Es folgte ein offener Schlagabtausch zwischen beiden reaktionären Fraktionen. Die Erdogan-Seite siegte, aber unzählige Dokumente zur massiven Korruption im Land und zur Einmischung in Syrien (geplante Operation unter falscher Flagge, Waffenlieferungen etc.) gelangten in die Öffentlichkeit. Die Maske war endgültig gefallen. Gleichzeitig sank der Wechselkurs, und Investoren schreckten vor Anlagen in der Türkei zurück, was die Wirtschaft, die stark exportabhängig ist, destabilisierte.

Verschiedene Teile der herrschenden Klasse begannen also, sich nach einer Alternative zur Erdogan-AKP umzusehen. Das war nicht so einfach. Keine politische Kraft wäre in der Lage gewesen, die nachteiligen Seiten der AKP abzulegen und die aus Sicht des Kapitals förderlichen zu behalten. Keine andere Kraft wäre in der Lage, eine für das Kapital akzeptable wirtschaftliche und politische Vision anzubieten, die zugleich auf den Konsens der Massen bauen und somit für Stabilität sorgen könnte.

Seit 2013 ist die AKP in einer Hegemoniekrise, die sich zunehmend verschärft. Seitdem versucht die Erdogan-Partei verstärkt, die wegbrechende Zustimmung mit Repression und Autoritarismus zu kompensieren. In der Bevölkerung herrscht politischer Verdruss, während die Wirtschaft immer mehr ins Wanken gerät.

Der Aufstieg der HDP

Der Widerstand gegen den AKP-Staat und dessen ausufernde Repress
Der Widerstand gegen den AKP-Staat und dessen ausufernde Repression wächst (Regierungsgegner auf einer Demonstration am 26. Juli in Istanbul)

Der Gezi-Aufstand setzte Dynamiken von unten frei, die seither vom System nicht mehr kontrolliert werden können und zur Vertiefung der Hegemoniekrise beitragen. Die Glaubensgemeinde der Aleviten demonstrierte gegen die türkische Unterstützung der Dschihadisten im Krieg gegen Syriens Präsidenten Baschar Al-Assad. Frauen sowie die Lesben- und Schwulenbewegung bekämpften die autoritäre und repressive Sexualmoral. Jugendliche wehrten sich gegen Verbote. Studierende gingen gegen die Neoliberalisierung der Universitäten auf die Straße. Kurden kämpften für Selbstbestimmung. Und alle gemeinsam gegen Gentrifizierung, Naturzerstörung, Unrecht, Repression und für Demokratie. Zum ersten Mal seit langer Zeit kamen die unterschiedlichsten marginalisierten, unterdrückten und ausgebeuteten gesellschaftlichen Gruppen zusammen und führten den Kampf gemeinsam. Das hinterließ tiefe Spuren. Seit Gezi ist die Hegemoniekrise unübersehbar, die AKP sieht sich mit einem permanenten Protest »von unten« konfrontiert.

Die zweite wesentliche Kraft, die die Integrationsfähigkeit der Regierungspartei unterminiert, ist die kurdische Befreiungsbewegung. Nach dem Gezi-Aufstand wurde die AKP von den militärischen und politischen Erfolgen der Kurden in Nordsyrien hart getroffen, also direkt an der Grenze zur Türkei. Die »Rojava-Revolution« im Jahr 2013, der Kampf um die Stadt Kobani (Ain Al-Arab), wurde zum Fanal. Die kurdische Befreiungsbewegung ist eine der dynamischsten Kräfte in der Region, weil sie auf eine breite Unterstützung aus der Bevölkerung bauen kann. Wegen ihres hohen Organisationsgrades ist sie ein nicht mehr zu ignorierender Faktor und entwickelte sich schnell zur größten Gefahr für die innen- und außenpolitischen Machtambitionen Erdogans und der AKP.

Gezi und Rojava machten so auch die Bildung einer breitgefächerten linken Allianz in der Türkei möglich, so dass die Halkların Demokratik Partisi (HDP, Partei der Völker) als Allianz von kurdischen, linken, demokratischen und sozialistischen Kräften überraschend stark mit 13,1 Prozent bei den Wahlen vom 7. Juni 2015 abschnitt.

Gewalt, Krieg, Terror

Die HDP war schon vor den Wahlen die einzige ernst zu nehmende Gefahr für Erdogans Pläne. Würde sie den Einzug ins Parlament schaffen, wäre die notwendige Mehrheit für eine Verfassungsänderung zugunsten eines auf Erdogan zugeschnittenen Präsidialsystems nicht zustande gekommen. Zudem hatte die AKP allergrößtes Interesse daran, sich an der Macht halten. Sie hatte sich mittlerweile so vieler Verbrechen schuldig gemacht, dass sie im Falle einer Niederlage schwerwiegende Konsequenzen befürchten musste.

Aus diesem Grund intensivierte Erdogan die Angriffe auf die kurdische Bewegung. Die 2012/13 begonnenen, aber nur halbherzig geführten Friedensverhandlungen mit der Partîya Karkerén Kurdîstan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) wurden von der AKP beendet, und zwar schon vor der Wahl. Als Vertreter von AKP und HDP im Dolmabahce-Palast am 28. Februar 2015 eine gemeinsame Erklärung, eine Roadmap für den Frieden, vorstellten, die auch mit PKK-Führer Abdullah Öcalan abgestimmt war, schien eine Lösung zur Beilegung des bewaffneten Konflikts nah wie noch nie. Doch kurz darauf begann Erdogan mit der Torpedierung der Verhandlungen. Er erkenne diese Erklärung nicht an. Und wenige Tage später behauptete er, es gäbe überhaupt keine kurdische Frage, die Kurden hätten doch alle Rechte.

Bald darauf begann eine bisher beispiellose Serie von Gewalt und Terror gegen linke, demokratische Kräfte und gegen die kurdische Bewegung. In der kurzen Zeit des Wahlkampfs gab es rund 200 Angriffe auf die HDP. Darunter zwei Bomben auf deren Büros in Adana und Mersin, die Hinrichtung des Wahlhelfers Hamdullah Öge und schließlich zwei Bomben inmitten einer Wahlveranstaltung in Diyarbakir zwei Tage vor der Wahl. All das half nichts: Die HDP zog im Juni 2015 ins Parlament ein, und die AKP erlitt eine schwere Schlappe. Sie verlor fast zehn Prozent und damit die absolute Mehrheit. Die folgenden Koalitionsgespräche der AKP mit der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, Republikanische Volkspartei) und der Partei der Nationalen Bewegung, MHP, waren eine Farce. Offensichtlich war Erdogan zu keiner Koalition, in welcher Zusammensetzung auch immer, bereit. Die Verhandlungen dienten allein dem Zweck, bald Neuwahlen ankündigen zu können.

Ohne »außergewöhnliche« Ereignisse würde sich an den Wahlergebnissen der AKP nichts ändern. Es geht dieses Mal ums Ganze. Deshalb forcierte Erdogan den Terror. Am 20. Juli fand ein Selbstmordanschlag in Suruc an der Grenze zu Kobani gegen eine sozialistische Jugenddelegation statt, die sich am Wiederaufbau der kriegszerstörten Stadt im Norden Syriens beteiligen wollte. 33 junge Sozialisten kamen ums Leben, viele mehr wurden verletzt. Offiziell wurde eine türkische IS-Zelle dafür verantwortlich gemacht. Der Staat antwortete in den Tagen darauf mit einem als »Krieg gegen den Terror« getarnten militärischen Angriff auf das kurdische Volk und die kurdische Guerilla sowie mit massiver Repression gegen Linke. Am 24. Juli begannen Militäroperationen im gesamtem Südosten und Nordwesten des Iraks gegen PKK-Stellungen. Auch Attacken gegen bürgerliche oppositionelle Medien und die Gülen-Gemeinde nahmen zu.

Seither dauern die Gefechte an, die PKK agiert dabei eher zurückhaltend agiert. Der bedeutendste Form des kurdischen Widerstands kommt von den jugendlichen Aktivisten der Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi (YDG-H, der Patriotischen Revolutionären Jugendbewegung), die in den Stadtvierteln der größeren Städte Kurdistans (und teilweise auch in anderen Teilen der Türkei) organisiert sind. Der Staat geht auch deshalb immer stärker dazu über, die kurdischen Städte unter Beschuss zu nehmen, z. B. in Cizre, das neun Tage regelrecht belagert wurde (siehe jW-Schwerpunkt vom 28.9.2015).

Opposition ist lebensgefährlich

Am 10. Oktober kam es zum vorläufigen Höhepunkt der blutigen Anschläge. Inmitten einer Demonstration für Arbeit, Frieden und Demokratie sprengten sich zwei Selbstmordattentäter des IS in Ankara in die Luft; über 100 Menschen kamen ums Leben. Die Rolle des Staates hierbei ist äußerst zwielichtig: nicht nur, weil die Polizei mit Tränengas in die Menge schoss, in der sich unzählige Verwundete befanden, sondern vor allem, weil die Attentäter den Geheimdiensten bekannt waren und von ihnen beobachtet wurden. Sie entstammen derselben IS-Zelle wie der Attentäter von Suruc. Die Attentäter sind mehrmals von ihren Familien den Behörden übergeben oder gemeldet worden. Die Erklärungen der AKP-Spitzen nach dem Massaker waren nichts als blanker Hohn. Die Botschaft des Anschlags von Ankara ist eindeutig: Jewede Opposition gegen die Partei ist nun lebensgefährlich.

Die Kriegstaktik der AKP scheint dennoch nicht aufzugehen. Sollten die Wahlen unter »normalen« Bedingungen stattfinden, werden sich die Ergebnisse vom 7. Juni mehr oder minder wiederholen. Die Krise der Regierungspartei wird sich vertiefen. Derzeit sieht es so aus, als ob Erdogan dann den Krieg und den Terror gegen die Bevölkerung noch weiter intensivieren wird. Es kann auch sein, dass sich ein Teil der AKP abspaltet und eine neue Partei gründet. Ebenso ist wegen einer Reihe eher subtiler Beschwerden des Militärs und der NATO an der Praxis der Erdogan-Partei ein erneuter Militärputsch möglich.
Von Alp Kayserilioglu/Istanbul, Max Zirngast/Ankara, Güney Isikara, jw. 29.10.15