Kämpfe um Zeit begleiten die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung seit ihrer Entstehung. Immer wieder stand dabei die Dauer des Arbeitstages im Fokus hart geführter Auseinandersetzungen. Es waren die Delegierten des Kongresses der »Internationalen Arbeiter Assoziation« (IAA), die 1866 in Genf die Forderung beschlossen, dass der Acht-Stunden-Tag international gesetzlich eingeführt werden solle.
Im Zentrum stand der Slogan »Acht Stunden arbeiten, acht Stunden schlafen, acht Stunden Freizeit und Erholung«. Es gehört zu den wichtigsten sozialpolitischen Errungenschaften, dass 1918 in Folge der Novemberrevolution in Deutschland die tägliche Höchstarbeitszeit erstmals gesetzlich auf acht Stunden begrenzt wurde.
Heute regelt das Arbeitszeitgesetz von 1994 in § 3, dass die tägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer von montags bis freitags »acht Stunden nicht überschreiten« darf. Eine Ausdehnung auf zehn Stunden ist nur dann ausnahmsweise möglich, wenn dies innerhalb von sechs Monaten wieder ausgeglichen wird und damit mittelfristig ein Durchschnitt von acht Stunden erreicht werden kann.
Gegen diese nach ihrer Auffassung »starre und unflexible« Regelung laufen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände seit Jahrzehnten Sturm. Aktuell begründet die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) ihre Forderung, den Acht-Stunden-Tag aus dem Arbeitszeitgesetz zu streichen, mit der zunehmenden »Digitalisierung«, d.h. der stärkeren digitalen Vernetzung des Arbeits- und Wirtschaftsgeschehens.
Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Ulrich Grillo, warnte in der Springer-Postille Bild am Sonntag vor staatlicher Überregulierung in Zeiten weltweiter Vernetzung: »Wir müssen die Flexibilität der Unternehmen im internationalen Wettbewerb erhalten. Es wäre dumm, die Chancen der Digitalisierung durch Überregulierung kaputtzumachen.« (19.7.2015) Es ist offensichtlich, dass die Arbeitgeber die Debatte um »Industrie 4.0« als Einfallstor nutzen wollen, um sich der verhassten gesetzlichen und tarifvertraglichen Fesseln sowie Mitbestimmungsstrukturen in der Bundesrepublik zu entledigen.
Im Positionspapier der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitsgeberverbände (BDA) »Chancen der Digitalisierung nutzen« heißt es: »Um mehr Spielräume zu schaffen und betriebliche Notwendigkeiten abzubilden, sollte das Arbeitszeitgesetz von einer täglichen auf eine wöchentliche Arbeitszeit umgestellt werden.« Schließlich erschwere die geltende gesetzliche Regelung »die internationale Kommunikation über Zeitzonen hinweg«, beklagt BDA-Präsident Ingo Kramer.
Damit meint er, dass Beschäftigte, die sich morgens mit dem asiatischen und abends mit dem amerikanischen Geschäftspartner abstimmen müssten, mit dem Gesetz in Konflikt geraten könnten. In dieser Perspektive sei es hilfreich, die Sonntags- und Feiertagsruhe gleich mit ins Visier zu nehmen. »Die Möglichkeit, weltweit vernetzt zu arbeiten, wird durch das Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit in Deutschland beschränkt«, wird in dem Positionspapier kritisiert.
Daher wäre es wichtig, die gesetzlichen Regelungen an die aktuelle Entwicklung anzupassen. »Nicht nur, weil starre Arbeitszeitregelungen die Flexibilität der Unternehmen mindern«, zeterte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, sondern weil »flexible Arbeitszeiten« für ArbeitnehmerInnen angesichts »der Notwendigkeit zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, immer mehr an Bedeutung« gewinnen, fügt er gönnerhaft hinzu. (Rheinische Post, 23.7.2015)
Gemeint ist etwas anderes: die noch weiter gehende Entgrenzung der täglichen Arbeitszeit, die Anpassung des Privatlebens an die aktuelle Marktlage. Denn ob und wann Beschäftigte Zeit für die Kinder oder die Pflege von Familienangehörigen haben, wird immer mehr abhängig von den Konjunkturen des Betriebs. Grund genug für Hartmut Seifert (ehemals Abteilungsleiter des WSI) zu fordern: »Nötig ist eine Eingrenzung der Arbeitszeit, gerade wegen der Digitalisierung«. Gerade mobile Arbeit brauche Grenzen (Mitteldeutsche Zeitung, 23,7.2015).
Der Acht-Stunden-Tag ist kein Auslaufmodell als Bezugsgröße für Arbeitszeiten, auch wenn er beispielsweise durch Arbeitszeitkonten die Arbeitszeitwirklichkeiten der Menschen vielfach nicht mehr bestimme. Dennoch so der Zweite Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hoffmann: »Wir haben heute hochflexible Arbeitszeiten, wobei der Acht-Stunden-Tag immer noch ein Schutzwall ist gegen eine unendliche Ausuferung von Arbeitszeiten, Entgrenzung von Arbeitszeit.« (Deutschlandfunk, 24.7 2015)
Dem »durchsichtigen Versuch, Schutzrechte abzubauen«, erteilt der Gewerkschafter eine eindeutige Absage. Beim mobilen Arbeiten gehe es um die Erfassung bzw. Nicht-Erfassung von Arbeitszeiten und deren Vergütung. Fest stehe: »Arbeitszeit muss erfasst und vergütet werden. Hier brauchen wir neue Regeln, auch in Tarifverträgen«. Doch praxistauglichen tariflichen Regelungen würden sich die Arbeitgeber bisher verweigern (IG Metall Website, 24.7.2015).
Die Positionspapiere der BDA »Zur Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt« (Mai 2015) und »Chancen der Digitalisierung nutzen« (Juni 2015) bewertet der DGB-Bundesvorstand als politischen Versuch, die Digitalisierung zur weiteren Liberalisierung des Arbeitsmarktes zu nutzen. Denn während BDA und BDI »politische Gestaltungs- oder Regulierungsoptionen neuer oder veränderter Arbeitsformen« grundsätzlich ablehnten, forderten deren Vertreter »weitere Deregulierungen der Arbeits-, Sozial- und Mitbestimmungsrechts«. Nach dem neoliberalen Motto »der Markt wird es schon richten«.[1]
Das von Andrea Nahles geführte Bundesministerium für Arbeit und Soziales wies die Forderung der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände nach einem »Ende der starren Acht-Stunden-Regelung« zurück: »Eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes wie gefordert ist nicht geplant«. Die Ministerin hat im Rahmen von »Arbeiten 4.0« mit Wissenschaftlern und Experten auch einer Debatte zu »Fragen der Arbeitszeitgestaltung« Raum geboten, deren Ergebnisse Ende 2016 in einem Weißbuch zusammengefasst werden sollen. Sollten dann Anpassungen des Arbeitszeit-Gesetzes notwendig sein, würden diese »immer gleichermaßen die Interessen und Schutzbedürfnisse beider Seiten der Sozialpartner im Auge haben und berücksichtigen«. Was das auch immer heißen mag.
Vermutlich betreiben die Arbeitgeberverbände mit ihrer öffentlichen Positionierung in der Arbeitszeitfrage »Lobbyarbeit im Vorfeld« des Weißbuches der Bundesregierung. Wenn dem so sein sollte, ist es umso notwendiger, dass sich die Gewerkschaften wappnen und mit eignen Arbeitszeitinitiativen öffentlich »Flagge zeigen«. Die Kongresse der beiden größten DGB-Gewerkschaften – ver.di und IG Metall – im September und Oktober sind gute Gelegenheiten für die Delegierten, sich zum Thema Arbeitszeit zu positionieren. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung darüber, wie die Defensive der Gewerkschaften in der Arbeitszeitfrage überwunden werden kann.
Dies ist schon deshalb notwendig, weil »Kämpfe um Zeit« anspruchsvoller und komplexer geworden sind. Dies gilt auch für die Durchsetzungsbedingungen. »Die Wiederaneignung der Zeit ist zentral in einem finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregime, dessen Verwertungsansprüche mehr als je zuvor auf dem Raubbau an lebendiger Arbeit basieren. Soll die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung viele Menschen mobilisieren und handlungsorientierend sein, braucht es Brücken zu den heutigen Realitäten der Arbeits- und Leistungsregime«.[2] Und dies erst recht in Zeiten des digitalen Wandels.
[1] Vgl. Kommentar des DGB-Bundesvorstands zum Positionspapier der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) zur Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt, Juni 2015.
[2] Vgl. Richard Detje/Sybille Stamm/Florian Wilde (Hrsg.): Kämpfe um Zeit. Bausteine für eine neue (Arbeits-)Zeitpolitische Offensive, Manuskripte Rosa-Luxemburg-Stiftung, September 2014.
31. Juli 2015