Bei den Schiedsgerichten führt die EU die Öffentlichkeit in die Irre
Bekommen Konzerne durch das Freihandelsabkommen zu viel Macht? Die TTIP-Papiere enthüllen, welches Schiedsgericht-Modell die USA wollen.
Der Vorschlag aus Brüssel war schon seit Monaten öffentlich, doch im Februar wurde er den Amerikanern noch einmal ausführlich vorgestellt: Bei der 12. TTIP-Verhandlungsrunde erläuterten die Europäer den USA ihre Idee eines Handelsgerichtshofs. Geht es nach den Vorstellungen der EU, soll er die umstrittenen privaten Schiedsgerichte ersetzen. Diese kann ein Unternehmen anrufen, wenn es durch Gesetze ausländischer Regierungen sein Eigentum bedroht sieht. Kritiker sehen darin die Möglichkeit, dass Konzerne mehr oder weniger heimlich demokratische Entscheidungen aushebeln können. Und was halten die Amerikaner von dem Vorschlag aus Brüssel?
US-Chefunterhändler Dan Mullaney äußert sich im Februar diplomatisch: “Wir verstehen die Bedenken, die hinter dem Vorschlag der EU stehen.” Aber was denken die Amerikaner wirklich? In einer internen EU-Zusammenfassung der Verhandlungsrunde ist nachzulesen, wie stark die Meinungen in Wahrheit auseinanderklaffen: Die Amerikaner gehen auf die beiden Hauptwünsche Europas, nämlich öffentliche statt private Richter und eine Berufungschance für den Verlierer, gar nicht ein. “Andere Bestimmungen, wie das Tribunal erster Instanz und das Berufungsgericht wurden in dieser Runde nicht angeschnitten”, heißt es in dem geheimen Dokument. Und das ein halbes Jahr, nachdem die EU-Ideen öffentlich wurden.
An dieser Stelle zeigt sich, wie sehr die EU die Öffentlichkeit im Unklaren lässt, worüber geredet wird. Denn die Kommission veröffentlicht eine Version der Zusammenfassung auf ihrer Website. Der Satz, dass die Amerikaner wesentliche Forderungen der Europäer ignorieren, fehlt darin. Also: Die aus europäischer Sicht entscheidenden Fragen wurden gar nicht besprochen. Doch davon dürfen die Bürger augenscheinlich nichts erfahren.
Was die Öffentlichkeit bisher nicht wusste, aber durch die Enthüllung nun erfährt: Die USA haben einen Gegenvorschlag zum europäischen Modell gemacht. Er bewegt sich entlang der Linien des transpazifischen Abkommens TPP, das die USA mit elf Pazifikstaaten abschlossen: Transparentere Schiedsgerichte als bisher soll es geben, mit Verhandlungen live im Internet, an denen Vertreter der Zivilgesellschaft teilnehmen dürfen. Aber eben: keine öffentlichen Richter, keine Berufung, wie die Brüsseler Behörde fordert. Sollten sich die USA nicht genug bewegen, erwägen EU-Staaten als Druckmittel einen Verzicht auf den Investorenschutz, also das “I” in TTIP. Dann müssten die USA hinnehmen, dass Firmen nicht besonders geschützt werden.
Für TTIP-Kritiker sind die Schiedsgerichte ein wichtiges Thema. Sie verweisen auf einen in ihren Augen besonders krassen Fall: Vattenfall verklagt Deutschland. Ganz einfach deshalb, weil der schwedische Energiekonzern sich ungerecht behandelt fühlt. Also hat das Unternehmen vor einem Schiedsgericht Klage erhoben, da es wegen des deutschen Atomausstiegs seine Kraftwerke früher stilllegen musste als geplant. Vattenfall fordert vom deutschen Staat 4,7 Milliarden Euro Schadenersatz. Das Unternehmen beruft sich dabei auf den sogenannten Energiecharta-Vertrag, der einst zwischen EU- und den früheren Ostblock-Staaten geschlossen wurde.
Wie viele andere Handelsabkommen auch, sieht dieser Vertrag Schiedsstellen vor. Und diese Konstruktion ist den TTIP-Kritikern ein Dorn im Auge. Brüssel hat auf die Kritik reagiert und eben jenes Konzept eines Handelsgerichts vorgeschlagen. Dabei soll das Prinzip gelten, dass Investorenklagen keine bestehenden Gesetze aushebeln dürfen. Der Europa-Abgeordnete Sven Giegold (Grüne) sieht in den Schiedsgerichten einen massiven Angriff auf den demokratischen Prozess: “Wenn insgesamt die politischen Kosten den wirtschaftlichen Nutzen übersteigen, macht ein Handelsabkommen keinen Sinn.”