Das Grundeinkommen und die ultralinken Unternehmerfreunde
Einst galt es als exotischer Blütentraum, heute fördern Konzernchefs die Idee
Die Griechen hielten Sklaven, um nicht arbeiten zu müssen. Arbeit galt ihnen als Makel, unwürdig des freien Menschen. Wer Sklaven besaß, hatte Zeit für Kunst, Literatur, Philosophie und Heldentaten. Gutes Leben war ein Leben ohne Arbeit.
Zweieinhalbtausend Jahre später, der 2. Juni 2017, im Landtag von Schleswig-Holstein: Auf dem Flur reden drei Grünen-Abgeordnete aufgeregt auf ihren Landesvorsitzenden ein. Arfst Wagner heißt dieser, ein 63-jähriger Schriftsteller und Verleger anthroposophischer Literatur, vor etwa zwei Jahren überraschend und knapp ins Amt gewählt. Im Konferenzraum warten die Verhandlungspartner. CDU, FDP und Grüne werkeln gerade an ihrem »Jamaikabündnis«: Alternativmilieu trifft ökonomischen Rationalismus.
Auf dem Plan steht an diesem Tag das Grundeinkommen, Wagners Lebensthema. Im November 2007 hatte er als einfaches Mitglied den Nord-Verband zu einem Parteitagsvotum für ein Grundeinkommen bewegt – das der Bundesverband nur eine Woche später verwarf, während er Hartz IV bekräftigte. Thema erledigt?
Nicht ganz. Zehn Jahre später, im Frühsommer 2017, bedrängen die Abgeordneten ihren Vorsitzenden. Doch Wagner ist gehemmt. Er wird sich später erinnern, an diesem Tag zunächst keine Hoffnung mehr gehabt für seine Idee. Doch dann ereignet sich vordergründig Überraschendes im Konferenzraum. CDU und FDP lassen sich überzeugen: Die Digitalisierung, so in etwa die Debatte, koste Millionen ihren Job. Der Sozialstaat sei kompliziert. Wäre es da nicht einfacher, jedem Bürger einen Geldbetrag auszuzahlen, von dem er leben könnte, ohne Bedingung, ohne Bürokratie? Kopfnicken bei Liberalen und Konservativen. Man einigt sich. Nächster Punkt.
Es ist in der Tat bemerkenswert, was sich an diesem Tag ereignet. Zum ersten Mal verpflichtet sich in Deutschland eine Regierung, die Einführung eines Grundeinkommen ernsthaft zu prüfen. Im aktuellen Koalitionsvertrag der Kieler Landesregierung heißt es, ein »Zukunftslabor« solle über »Bürgergeld«, »Grundeinkommen« und die Weiterentwicklung der Sicherungssysteme diskutieren. Der Grüne Umweltminister und Regierungsvize Robert Habeck kündigt sogar einen Modellversuch zur Erprobung im Lande an. Das ist nicht der Programmpunkt, der bundesweit Schlagzeilen macht. Doch er spricht sich herum: Die Erfurter Landespolitikerin Ina Leukefeld (LINKE), sinniert danach über eine Bundesratsinitiative. Wenn man nun noch das rot-rote Brandenburg ins Boot bekäme …! Es wäre die ganz große Koalition. CDU, FDP, SPD, Grüne plus Linkspartei.
Doch nach der Überraschung erhält Wagner E-Mails, in denen Parteifreunde fragen, ob er wahnsinnig geworden sei? Die unkomplizierte Einigung macht misstrauisch. Mancher befürchtet, die grünen Verhandler seien auf einen neoliberalen Trick hereingefallen. Und der vereinbarte Text erklärt diese Sorge. Zunächst fehlt im Absatz »Arbeitsmarkt und soziale Sicherung in der digitalen Gesellschaft« das – entscheidende – Wort »bedingungslos«. Am Tag nach der Unterzeichnung erklärt denn auch FDP-Generalsekretärin Nicola Beer, es gehe ihrer Partei gerade darum: um ein »liberales Bürgergeld« statt um ein »bedingungsloses Grundeinkommen«. Im gelben Wahlprogramm für den Bundestag wird das erläutert: Sämtliche steuerfinanzierten Sozialleisten sollen in eine einzige Leistung zusammengefasst werden – für diejenigen, die arbeiten. Das Bürgergeld ist hier eine Lohnsubvention für Geringverdiener, keine Einkommenssicherung für Arbeitslose.
Das muss im Hinterkopf haben, wer die wachsende Fangemeinde einer Zahlung betrachtet, die als »Grundeinkommen« bezeichnet wird: man reibt sich die Augen: Es wimmelt da von DAX-Vorständen – Joe Kaeser von Siemens, Timotheus Hoettges von der Telekom, Bernd Leukert von SAP – sie alle geben in großen Zeitungsinterviews an, die Digitalisierung werde harsche soziale Brüche erzeugen, die nur mit einem Grundeinkommen zu kitten seien. Selbst im Silicon Valley machen sich Leute wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg und Elon Musk von Tesla für ein Grundeinkommen stark.
Ist in den Chefetagen die Philanthropie ausgebrochen? Linke Befürworter eines bedingungslosen, bedarfsprüfungsfreien und daher auch sanktionslosen Grundeinkommens argumentieren, schon die Ausschaltung nackter Existenzangst als soziales Motiv werde die Gesellschaft zivilisieren. Mark Zuckerberg überführt diesen humanistischen Horizont in einen ökonomisch rationalen: Der Kapitalismus lehre, dass ums Überleben kämpfende Einheiten negative Strategien fahren, statt nach kreativen Zukunftsinvestments zu suchen. So fördere ein Grundeinkommen eine »Siegermentalität«.
In der DGB-Grundsatzabteilung wittert man dagegen banalere Kalküle: Tarifbindung und Kündigungsschutz würden mit einem Grundeinkommen zur Disposition gestellt. Staatliche Entgeltsubventionen förderten Billiglohnexzesse. Würde es bedingungslos auch an Arbeitslose ausbezahlt, wie die Grünen wollen, werde ein Hire and Fire nach Auftragslage legitim. Ähnlich warnt der Ökonom Heiner Flassbeck im Magazin »Makroskop«: Die Kieler Grünen hätten sich über den Tisch ziehen lassen. Das Grundeinkommen sei eine neoliberale Strategie, Arbeitern die Gewinne der Digitalisierung zu nehmen. Und tatsächlich ist es im Koalitionsvertrag dicht von neoliberalem Vokabular umstellt: Flexibilisierung der Arbeit, Entbürokratisierung der Sozialverwaltung.
Wie relevant die »Digitalisierung« als Katalysator sozialpolitischen Umdenkens tatsächlich ist, bleibt zudem umstritten. Im November 2016 kamen Forscher der Agentur für Arbeit zu dem Ergebnis, sie erde bis 2025 rund 1,5 Millionen Jobs kosten – freilich auch ebenso viele schaffen.
Ganz anders erwartet John Komlos, emeritierter Ökonom der Münchner Uni, einen »Sturm der Verwüstung«. In Papier von 2014 erklärt er, die Digitalisierung widerlege das klassische Theorem der »schöpferischen Zerstörung«. Anders als die Industrialisierungsschübe des 19. und 20. Jahrhunderts komme sie fast ohne Arbeitskraft aus. Sie zerstöre Jobs, ohne neue zu schaffen und trenne so Wachstum von allgemeinem Wohlstand. Es drohe eine neue Epoche von Erwerbsarmut und Unterbeschäftigung – wie im Absolutismus. Apokalyptiker wie der Starphilosoph Slavoj Zizek spinnen das weiter: Die liberale Ära liege auf dem Totenbett, bald werde der »demokratische Konsens« zwischen Linken und Liberalen zerbrechen, der derzeit die Klassengegensätze noch verschleiere.
Riecht also Zukunft nach Kampf und Blut? Wagner glaubt eher an die Versöhnung der Gegensätze, quasi verkörpert im Grundeinkommen. So nennt er sich einen »ultralinken Unternehmerfreund« und kann mit allen regieren. Parteilinke wie der Abgeordnete Rasmus Andresen sehen »Jamaika« hingegen als Fehler und glauben nicht, dass die Koalition eine Legislatur übersteht.
Man darf das Grundeinkommen nicht als genuin linkes Projekt verstehen. Vielen Verfechtern geht es nicht um Verteilungsgerechtigkeit oder die Demokratisierung der Produktionsmittel. Oft sind sie Individualisten, Nonkonformisten und Abenteurer. Wie etwa der libertäre Philosoph Henry David Thoreau, der schon 1845 eine Art Grundeinkommen forderte und sich dann in eine Waldhütte zurückzog. Oder wie eben Arfst Wagner. In den 1980er Jahren schließt er sich der Anthroposophie an und unterrichtet in einer Waldorfschule. Dann, im Dezember 1982, erhält er vom anthroposophischen Flügel der Solidarnosc-Bewegung ein Hilfegesuch: Mit einem Ausdruckstanz soll er eingeschüchterte Demokratieaktivisten aufrichten. Nach dieser Performance in einer Dachgeschosswohnung wird er um Geld gebeten: Ein junger Mann wolle den ersten Ökohof Polens aufbauen, er brauche 5000 DM. Wagner verspricht, sich umzuhören. Und bald, so erzählt er im Gespräch, klingelt tatsächlich sein Telefon.
»Habe gehört, ein junger Mann will einen Ökohof kaufen«, sagte eine unbekannte Stimme. Was das denn kosten solle? Wie die Bankverbindung sei? Der Anrufer ist Götz Werner, Gründer der heute milliardenschweren Drogeriekette »dm«. Auch er ist Anthroposoph, liest Rudolf Steiner, der 1906 als »soziales Hauptgesetz« formulierte: Das Heil einer Gemeinschaft wachse, wenn Einzelne die Erträge ihrer Leistung mit ihren Mitmenschen teilten.
Werner, der Multimillionär, spielt nach diesem Anruf für den heutigen Grünen-Chef im Norden eine wichtige Rolle. In seinem Buch »Einkommen für Alle«, mit dem er 2007 in die Debatte über die Agenda 2010 eingreift, feiert er Arbeitslosigkeit geradezu als eine Errungenschaft. Die Menschheit befinde sich an einem Wendepunkt: Es sei möglich, die Arbeit von den Bedingungen auszuschließen, unter das Leben gegeben ist. Wir könnten wie die alten Griechen leben, nur würden nicht Menschen, sondern Maschinen unsere Sklaven sein. Digitalisierung, Rationalisierung und Überfluss hätten einen paradiesischen Zustand hervorgebracht, der über ein bedingungsloses Grundeinkommen aufgeschlossen werden könne.
Am 10. Juli 2017 tritt Arfst Wagner durch die vergoldete Drehtür des »Park Hotels« in die Dämmerung. Das jährliche Wirtschaftsforum des CDU-Stadtverbandes ist gerade beendet – und Wagner sieht sich am Flutsaum der Geschichte. In einem einstündigen – »absolut spitzenmäßigen« – Vortrag, erinnert er sich, habe der liberale Ökonom Thomas Straubhaar über die Finanzierung eines Grundeinkommen durch Roboterarbeit referiert. Plötzlich seien sich auch Konservative ihrer Überzeugungen nicht mehr sicher. Es scheint Wagner, als lösten sich die politischen Lager endgültig auf. Als würde die Menschheit, nachdem sie sich über Jahrtausende hinweg strampelnd mit Arbeit über Wasser gehalten hatte, nun endlich an die rettende Küste gespült. Als breche der paradiesische Zustand des kollektiven Nichtstuns herein. Und das alles ausgerechnet in Schleswig Holstein.
Natürlich will die FDP den Sozialstaat weiterhin abschaffen. Wagner weiß das. Doch in Schleswig Holstein, wo die Grünen die Dinge von einem fernen Standpunkt in der Zukunft aus betrachten, verblasst das zu einer Nichtigkeit.