Der Gewerkschafter und Sozialist Pedro Castillo wird Präsident in Peru: »Nie mehr arm in einem reichen Land«
Auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie hat Anfang Juni in Peru die Stichwahl über den künftigen Staatspräsidenten stattgefunden. Der Albtraum der Fujimoristas wurde wahr: Der Gewerkschafter und Sozialist Pedro Castillo (51), Kandidat der marxistischen Partei »Perú libre«, erreichte nach Abschluss der Stimmenauszählung 50,125% der Stimmen.
Mit einer hauchdünnen Mehrheit von 44.058 Voten verwies er die ultra-rechte Keiko Sofía Fujimori Higuchi (46) von der Partei »Fuerza Popular« mit 49,875% auf den zweiten Platz. Castillo erklärte sich nach Beendigung der Stimmenauszählung zum Wahlsieger: »Eine neue Zeit hat begonnen«, twitterte er. Peru trete nach 30 Jahren marktliberaler Politik in eine neue Ära ein.
Das hält Fujimori nicht davon ab, alle Register zu ziehen, um Castillos Wahlsieg »juristisch« zu verhindern. Die Tochter des wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen verurteilten und inhaftierten rechtsgerichteten Ex-Diktators Alberto Fujimori (1990-2000)[1] beschuldigt die Linke des Wahlbetrugs: »Sie wollen die Ergebnisse, die den Willen des Volkes spiegeln, verfälschen oder verzögern«.
Auf den Spuren ihres Vorbildes Donald Trump fechten »Elite«-Advokaten, finanziert von peruanischen Großunternehmen, die Wahl an, obwohl internationale Kontrolleure wie die Kommission der ausländischen Wahlbeobachter: innen der OEA[2] sowie der Europäischen Union einen sauberen und fairen Wahlprozess ohne Unregelmäßigkeiten bestätigen und damit den Vorwurf des Betrugs widerlegen. Knapp 200.000 Stimmen aus den Wählerbastionen Castillos im andinen Hochland, aber auch in den Amazonasregionen Perus möchte sie vor dem nationalen Wahlgericht (JNE) annullieren lassen (Portal Amerika 21, 12.6.2021). Eindeutige Belege für ihre Vorwürfe konnte die unterlegene Rechte bislang nicht vorlegen.
Ein gefährliches Manöver, das die peruanische Demokratie, die nach unzähligen Korruptionsskandalen ohnehin schon höchst fragil ist, noch mehr schädigt. Denn außer gegen Castillo liefen bzw. laufen gegen fast alle insgesamt 18 Präsidentschaftskandidat:innen Korruptionsverfahren. In den vergangenen Jahren war Fujimori selbst mehrfach in Untersuchungshaft. In einem laufenden Korruptionsverfahren droht der Vertreterin der »weißen Elite«, die zum dritten Mal in einer Stichwahl unterlegen ist, selbst eine 30-jährige Haft. Mit der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses steht Keiko Fujimori in der Tradition des rechtskonservativen Lagers in Lateinamerika, das, sofern es die politische Macht nicht an der Wahlurne erlangen kann, mit Hilfe willfähriger juridischer Staatsapparate politische Gegner ausschalten lässt – auch als »lawfare« bezeichnet.
Der Erfolg Castillos, geboren im armen Tacabamba im Norden der Anden-Republik, der 2017 landesweites Ansehen als Führer der Lehrer:innengewerkschaft Perus (Sutep) beim Streik für angemessene Gehälter und Schulausstattung erlangt hatte, basiert vor allem auf den Stimmen der indigenen und mestizischen Bevölkerung, die sich im Gegensatz zu den dominierenden Eliten Limas mit Castillo identifizieren. So hat der Vertreter von »Perú libre« insbesondere im andinen Hochland, aber auch in den Amazonasregionen Perus, haushoch gewonnen. Es sind die Gebiete, in denen der Reichtum Perus – früher wie heute – abgeschöpft wird in Form von Gold, Kupfer, Zink und Erdgas, Regionen also mit Großbergbau und massiven sozialen Konflikten.
Castillo hat der indigenen Mehrheit, die von der ökonomisch herrschenden Klasse Perus ausgebeutet und unterdrückt wird, im Wahlkampf eine Stimme gegeben. Einer der Sätze, die Castillos Kampagne begleiteten, lautet: »Nie wieder ein armer Mensch in einem reichen Land sein!« Seine Versprechen, das neoliberale Wirtschaftsmodell zu beenden, sämtliche transnationalen Verträge im Bergbau neu zu verhandeln und den Staat mit 80 Prozent an den Einnahmen zu beteiligen, damit das marode Gesundheitssystem saniert und die Bildung verbessert werden können, punkteten in den indigen Regionen.
Dagegen stimmten die Bewohner:innen der Hauptstadt Lima sowie anderer Großstädte an der Küste mehrheitlich für Fujimori – Perus unbeliebteste Politikerin. Die städtische Mittel- und Oberschicht sieht in ihr eine Verteidigerin des in ihren Augen erfolgreichen neoliberalen Wirtschaftssystems gegen »den Kommunismus«. In einem von antikommunistischer Hysterie geprägten Wahlkampf ließen ihre Unterstützer:innen in Politik und Medien die Geister der Vergangenheit wieder aufleben.
Rechte und konservative Kreise haben keine Gelegenheit ausgelassen, Castillo in die Nähe der ehemaligen maoistischen Guerilla des »Sendero Luminoso« (Leuchtender Pfad) und des »Movimiento Revolucionario Túpac Amaru« (MRTA) zu rücken. Eine bewährte Taktik. Denn für Peruaner ist der Terror aus den 1980er und 1990er Jahren immer noch in Erinnerung. Auch der liberal-konservative peruanische Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa, einst heftiger Fujimori-Gegner, machte angesichts der Tatsache, dass ein Marxist Präsident werden könnte, in einer Kolumne in der spanischen Zeitung El País Wahlwerbung für Keiko Fujimori: Mit ihr gebe es »mehr Möglichkeiten, unsere Demokratie zu retten«. Die Wahl zwischen Fujimori und Castillo wurde letztlich zur Volksabstimmung über die politische Elite, der die Anliegen der einfachen Bevölkerung fremd sind.
Ein weiterer Grund für den knappen Erfolg der Linken war neben den Korruptionsskandalen die Vernachlässigung der Landbevölkerung. Gerade während der Corona-Pandemie spürten die Menschen deutlicher als zuvor, dass die neoliberalen Machthaber ihnen nichts zu bieten hatten: keine ausreichende medizinische Versorgung, keine Arbeitsplätze und keine bezahlbaren Lebensmittel. In keinem anderen Land weltweit wütete das Covid-19-Virus so heftig wie in Peru. Gleichzeitig leiden die abhängig Beschäftigten unter einer tiefen Rezession: Das Bruttoinlandsprodukt des Landes stürzte um 11% ab. Zwei Millionen Menschen haben während der Pandemie ihren Job verloren. Knapp ein Drittel der Bevölkerung lebt in Armut.
Der künftige Präsident tritt für Strukturreformen ein, die eine Umwälzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells bedeuten. Im Mittelpunkt seines Wirtschaftsprogramms steht die Erlangung der staatlichen Kontrolle über die Rohstoffe des Landes »zum Nutzen der Mehrheit der Peruaner«. Verträge mit großen Bergbaukonzernen sollen »neu verhandelt« und deren Besteuerung deutlich erhöht werden. Damit verfolgt er den in Bolivien eingeschlagenen Weg. Er fordert zudem die Haushaltsausgaben für Landwirtschaft und Bildung stark aufzustocken und will das von Chile übernommene System der privaten Pensionskassen (AFP) wieder durch ein nationales Rentensystem ersetzen.
Sein Berater-Team unter dem progressiven Ökonomen Pedro Francke dementierte kursierende Vorwürfe, Präsident Castillo werde das Land wirtschaftlich destabilisieren: »Wir werden das Privateigentum respektieren. Die Ersparnisse der Menschen werden nicht angerührt und wir werden auch die Autonomie der Zentralbank beibehalten, damit Investitionen nicht einbrechen.« Ferner, so Castillo, brauche Peru eine unabhängige Außenpolitik und »solle aufhören, ein von den USA unterworfenes Land zu sein«.
Ein Teil der Strukturänderungen sollen laut Castillo durch eine neue Verfassung ermöglicht werden. Für ein Verfassungsreferendum bräuchte der präsidiale Gewerkschafter allerdings eine Mehrheit im Parlament. Doch seine Partei »Perú Libre« stellt mit 37 Sitzen zwar die stärkste Fraktion und kommt mit der verbündeten Linkspartei »Gemeinsam für Peru« auf gerade einmal 42 von insgesamt 130 Sitzen – damit ist Castillo im Parlament mit einer rechts-konservativen Mehrheit konfrontiert, die einen auch noch so bescheidenen wohlfahrtsstaatlichen Umbau nicht hinnehmen wird. Deshalb wird der neue Präsident auf die Mobilisierung der Gewerkschaften, der zivilgesellschaftlichen Kräfte und der indigenen Bevölkerung setzen müssen.
Laut Latinobarómetro ist Peru nach Bolivien das Land mit dem zweithöchsten Anteil an mobilisierten Menschen, sei es durch Streiks im Bergbausektor, lokalem Widerstand gegen die Missstände beim Rohstoffabbau, Proteste im öffentlichen Sektor, im Bildungs- und Gesundheitswesen oder Großdemonstrationen gegen endemische Korruption. »Die Kombination aus neoliberaler Prekarität und regionaler Zersplitterung hat lange Zeit verhindert, dass diese Bewegungen zu einer glaubwürdigen Bedrohung des Systems zusammenwachsen, aber mit Castillo könnten sie nun eine größere Rolle in der nationalen Politik spielen« (Jacobin, 14.6.2021).
Auch wenn die Bedeutung von Castillos Sieg nicht überbewertet werden sollte, ist er nach der Abwahl der Putschisten in Bolivien sowie der großen sozialen Protestwellen in Perus Nachbarländern Chile ein weiteres Hoffnungszeichen. Eine Castillo-Regierung wird der Linken in der Region den Rücken stärken können.
Anmerkungen
[1] Alberto Fujimori sitzt wegen Korruption und Menschenrechtsverletzungen nicht nur 25 Jahre im Gefängnis, sondern muss sich derzeit vor Gericht auch der Zwangssterilisation von rund 300 000 indigenen Frauen im Rahmen eines Geburtskontrollprogramms verantworten. Es wurde befürchtet, dass Keiko Fujimori nach einem Wahlsiege, ihren Vater begnadigen wollte.
[2] Bei der Präsidentschaftswahl im November 2019 in Bolivien war der Wahlbericht der Organisation der Amerikanischen Staaten (OEA) das Signal für die ultrakonservativen Kräfte, um gegen die wiedergewählten indigenen Präsidenten Evo Morales zu putschen. Vgl. Otto König/Richard Detje: Anti-indigener Staatsstreich in Bolivien. Rollback der Elite, Sozialismus.de Aktuell 24.11.2019.
sozialismus, 23.6.21: Otto König/Richard Detje