Die Abschaffung des Bürgergeldeshnsinnige: « Sozialkürzung vertiefen gesellschaftliche Spaltung
Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi kritisiert zu Recht die Beschlüsse der schwarz-roten Koalition mit diesen Worten. Das Bürgergeld soll künftig nicht mehr so heißen, und wer nicht »arbeitswillig« ist, muss mit härteren Konsequenzen rechnen als bisher. Äußerungen der Unionsparteien nach der Koalitionseinigung, das Bürgergeld sei Geschichte, stoßen der Ko-SPD-Chefin Bärbel Bas sauer auf. Denn: »Wer mitmacht, der hat überhaupt nichts zu befürchten.«
Das Bürgergeld ersetzt seit 2023 Hartz IV und bietet besseren Schutz bei Arbeitslosigkeit. Ersparnisse und Wohnkosten sind länger abgesichert, und es gibt mehr Unterstützung für Weiterbildungen. Es unterstützt Menschen, die arbeitslos sind oder nicht genug verdienen. Man erhält es in der Regel nach einem Jahr Arbeitslosengeld. Die Regelsätze für das Bürgergeld wurden 2024 um 12% erhöht.
Bei der geplanten »Reform« gehe es keineswegs darum, die Grundsicherung »aufzulösen«, sagte die Arbeitsministerin. Es würden lediglich die Mitwirkungspflichten durch neue Sanktionsmöglichkeiten »angeschärft«. Wer Termine im Jobcenter wiederholt versäume, dem würden künftig alle Leistungen gestrichen werden, bis hin zur Unterstützung für die Unterkunft. Die Botschaft der Sozialdemokratin: »Für die, die alles richtig machen, die mitwirken, die wollen, für die ändert sich an diesem Gesetz gar nichts.«
In Deutschland erhalten aktuell etwa 5,5 Mio. Menschen Bürgergeld, 1,8 Mio. davon sind Kinder und Jugendliche. Über zwei Mio. Bürgergeldbezieher*innen sind aus anderen Gründen nicht für Arbeit verfügbar – sie haben gesundheitliche Probleme oder keine Betreuung für ihre Kinder. Etwa 800.000 Menschen arbeiten zwar, brauchen aber zusätzliches Geld vom Staat, um ihren Lebensunterhalt zu sichern (»Aufstocker*innen«).
Rund 1,7 Mio. Bürger*innen im Bürgergeldbezug sind arbeitslos und könnten prinzipiell arbeiten. Die meisten von ihnen haben jedoch keine ausreichende Ausbildung oder andere Probleme, die eine Arbeitsaufnahme erschweren. Unternehmen scheuen oft das Risiko, diese Menschen einzustellen, und wenn doch, endet die Beschäftigung häufig schnell wieder.
Tatsächlich »missbraucht« nur ein kleiner Teil der Bürgergeldempfänger*innen das System und verweigert die Arbeit: 16.000 Menschen, das sind gerade einmal 0,4% aller Bürgergeldbeziehenden.
Das interessierte etwa den CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann schon im Juli 2024 bei der Funke-Mediengruppe nicht, der einen Skandal thematisierte: »Die Statistik legt nahe, dass eine sechsstellige Zahl von Personen grundsätzlich nicht bereit ist, eine Arbeit anzunehmen […], dann muss die Grundsicherung komplett gestrichen werden«. Die von ihm genannten Zahlen waren allerdings schon damals völlig aus der Luft gegriffen.
Seit Monaten rückt eine gesellschaftliche Koalition unter Führung der CDU/CSU den vermeintlichen Missbrauch ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Rechtsextremisten, Konservative und Neoliberale machten samt ihren Leitmedien kampagnenartig Stimmung gegen den Sozialstaat. Spitzenpolitiker*innen nutzten ihre Sommerinterviews für das Bürgergeld-Bashing.
Mit der Reform von Hartz IV hatte einst die Ampel einige Verbesserungen für Transferleistungsbezieher*innen geschaffen. Nun stellt AfD-Chefin Alice Weidel die Forderung auf, Ausländer*innen und Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit kein Bürgergeld mehr zu zahlen, weil sie nie ins deutsche Sozialsystem eingezahlt hätten.
Es geht bei der Debatte ums Bürgergeld auch um Ressourcen zur Verminderung des Defizits im Bundeshaushalt. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), Linnemann und Markus Söder (CSU) wollen zudem eine vermeintlich gravierende Ungerechtigkeit in der Berliner Republik beheben: Der leistungslose Bezug zerstöre den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Abschaffung des Bürgergeldes war eine zentrale Wahlkampfforderung der Union für die Bundestagswahl im Februar 2025.
Die SPD ließ sich mehrheitlich in den Sog der politischen Kampagne des bürgerlichen Lagers hineinziehen. Der Niedergang der Sozialdemokratie wurde von vielen Parteistrateg*innen auf eine fatale Transformation zurückgeführt: Die SPD vertrete nicht mehr die Interessen der Lohnarbeitenden, sondern sei in den Augen von Vielen in eine politische Interessenvertretung der Transferempfänger*innen mutiert.
Mit der Intervention der Parteichefin und Arbeitsministerin Bas soll diese Transformation beendet werden: »Wir fördern Arbeit statt Arbeitslosigkeit« lautete ihre strategische Alternative. Das politische Problem: Mit dem Bürgergeld wollte man Hartz IV und die Agenda-Politik von Gerhard Schröder endgültig hinter sich lassen. Aber bei vielen SPD-Wähler*innen verfing gleichwohl die von der Union vorangetriebene Kritik am »bedingungslosen Grundeinkommen«.
Die Union begründete ihre Kampagne gegen das Bürgergeld neben der Bekämpfung von leistungslosem Einkommen und Wahrung einer leistungsbasierten Gerechtigkeit mit der Logik des Sparzwanges bei den öffentlichen Ausgaben: Sanktionen und Druck auf Arbeitslose würden helfen, beim Bürgergeld zu sparen. Einem Bericht des Boulevard-Blattes Bild zufolge plante die Bundesregierung bis 2027 4,5 Mrd. Euro Einsparungen beim Bürgergeld.
Die Unionsfraktion im Bundestag hat diese politische Fiktion eines milliardenschweren Einsparpotenzials beim Bürgergeld mit Blick auf anhaltende Kritik korrigiert: Der Parlamentarische Geschäftsführer Steffen Bilger der Union sagte dem MDR, niemand wolle einen sozialen Kahlschlag. Jedoch liefen die Kosten für das Bürgergeld aus dem Ruder. Wenn man es hinbekomme, durch etwas mehr Druck und Sanktionen noch mehr Menschen in Arbeit zu bringen, dann könne man Milliardenbeträge einsparen.
Führende Politiker der Union forderten gleichwohl weiterhin Einsparungen beim Bürgergeld, auch im Gegenzug für Entlastungen bei der Stromsteuer. Bild zufolge sollen die Ausgaben des Bundes im nächsten Jahr um 1,5 Mrd. Euro niedriger liegen, vor allem aufgrund der Abstriche und härterer Sanktionen beim Bürgergeld. So sei geplant, die Leistungen schon beim ersten Verstoß um 30% statt bisher 10% zu kürzen.,
Arbeitsministerin Bas hatte Befürworter*innen schärferer Sanktionen zugunsten von Entlastungen etwa bei der Stromsteuer eine Absage erteilt. In einem »Deutschlandfunk«-Interview sagte die SPD-Politikerin, dass damit kaum finanzielle Einsparungen zu erzielen seien: »Die Sanktionen werden nicht helfen.« Es sei ein Irrtum zu glauben, dass sich durch unkooperative Leistungsbeziehende große Summen einsparen ließen.
Das von den Unionsparteien propagierte Einsparziel wurde deshalb auch rasch als völlig unhaltbar entlarvt: Um beim Bürgergeld ein Sparziel von 1,5 Mrd. Euro pro Jahr zu erreichen, müssten 100.000 Empfänger*innen komplett aus dem System ausscheiden. Diese Zahl nannte die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles. Nicht jede/r Bürgergeldempfänger*in, der in Arbeit vermittelt werde, könne komplett auf staatliche Leistungen verzichten – viele seien Aufstocker*innen, bei denen der Verdienst nicht zum Lebensunterhalt und zur Deckung der Unterkunftskosten ausreiche.
Von der Verschärfung der Sanktionen gegen Bürgergeldempfänger*innen, die sich nicht an die Vorschriften hielten, sei keine entscheidende finanzielle Wirkung zu erwarten, so Nahles. 2024 seien rund 20 Mio. Euro über Sanktionen eingespielt worden. Selbst wenn man dies über Verschärfungen der Regeln verdreifachen könne, sei man noch weit vom Ziel entfernt.
Eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung[1] untersucht die Wirkung von Sanktionen auf die Arbeitsvermittlung, allerdings basierend auf Daten aus den Jahren 2012 bis 2015, also vor der Einführung des Bürgergeldes. Sie zeigt, dass gelegentliche Sanktionen die Vermittlungsquote verbessern können, während zu strenge Sanktionen oft zu schlechteren Arbeitsplätzen und sinkendem Einkommen führen. Daher wird ein moderater Ansatz empfohlen.
Das sah das Bundesverfassungsgericht ähnlich. Es hat 2019 entschieden, dass härtere Sanktionen strengen Anforderungen entsprechen müssen. Es müssen verlässliche Prognosen vorhanden sein, um sicherzustellen, dass die Sanktionen auch den gewünschten Effekt haben. Das Existenzminimum in Deutschland müsse zu jeder Zeit gesichert sein. Eine hundertprozentige Streichung von Leistungen ist nicht mit der Verfassung vereinbar.
Zu üppiges Bürgergeld oder zu wenig Besteuerung von Reichtum?
Der Regelsatz für das Bürgergeld wurde im Januar 2024 um 12% erhöht. Das ist mehr als die aktuelle Inflationsrate von 2,2%. Trotzdem hält das Bürgergeld nicht mit der Inflation Schritt, da die Anpassungen verzögert erfolgen. Zwischen 2021 und 2023 hatten Bürgergeld-Empfänger*innen starke Kaufkraftverluste – vor allem für die hohen Preise für Lebensmittel und Energie –, die selbst durch die Erhöhungen in 2023 und 2024 nicht vollständig ausgeglichen wurden. Eine Analyse der Ökonomin Irene Becker im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbands[2] kommt zu dem Schluss, dass die jüngste Erhöhung nur einen Teil der Verluste ausgleicht und nicht ausreicht, um Schulden abzubauen.
Die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Yasmin Fahimi, bringt die Verschärfung in der Grundsicherung gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland auf den Punkt: »Statt darüber zu diskutieren, wie wir Menschen in den Arbeitsmarkt integrieren können, sollen nun drakonische Sanktionen verhängt werden, um vielleicht ein paar Hundert Menschen aus dem Bürgergeld zu drängen.«
Im Jahr 2023 gab die Bundesagentur für Arbeit rund 42,6 Milliarden Euro für das Bürgergeld aus. Das sind weniger als 7% des gesamten Bundeshaushalts von 613,9 Mrd. Euro. Das Einsparpotential ist wie gezeigt nur minimal. Zur Finanzierung wirksamer Entlastungen von Bürger*innen und Unternehmen kommt man nicht durch Manöver zulasten der Ärmsten, sondern durch Steuererhöhungen von wirklich »leistungslosen« Einkommen, also Vermögen oder Vermögensübertragungen wie Erbschaften.
Das kann beginnen mit dem Abbau von Steuervergünstigungen bei der Immobilienbesteuerung. Auch die Grundsteuer könnte gestärkt werden, die in Deutschland ein relativ geringes Gewicht im internationalen Vergleich hat. Der Abbau von Erbschaftsteuerprivilegien oder die Einführung von Vermögensteuern für Reiche und Superreiche würden außerdem dazu beitragen, nicht nur die Steuergerechtigkeit zu stärken, sondern vor allem die beträchtliche Top-Vermögenskumulation zu begrenzen. Je nach Ausgestaltung würden sie – ganz im Gegenteil zu dem, was insbesondere Unionspolitiker*innen immer an die Wand malen – keine Effizienz- und Wachstumsnachteile für die bundedeutsche Wirtschaft haben.[3]
Anmerkungen
[1] Markus Wolf: Bereits die Möglichkeit einer Sanktionierung wirkt, IAB-Kurzbericht 15 | 2024.
[2] Irene Becker, Entwicklung der Kaufkraft in der Grundsicherung, Exptertise für den Paritätischen Wohlfahrtsverband, 22. April 2024.12
[3] Vgl. Stefan Bach, Steuerreformvorschläge der Parteien: Ambitionierte Entlastungen für arbeitende Mitte und Unternehmen treiben Defizite, DIW aktuell 106, Februar 2025.
aus: Sozialismus, 12.10.25