Die Konfrontation spitzt sich zu: Rassistische Polizeigewalt in den USA: mehr als individuelle Verfehlungen
Der massenhafte Protest in den USA einige Monate vor den Präsidentschaftswahlen richtet sich gegen das skrupellose, mörderische Vorgehen der Polizei gegen schwarze Bürger*innen. Aktueller Anlass ist die Ermordung von George Floyd in Minneapolis, die in einem entsetzlichen Video festgehalten wurde.
Das polizeiliche Verhalten wurde von Trump gerechtfertigt. Inzwischen wird gemeldet, dass der Polizist wegen Mordes angeklagt wird. Zusätzlich angefacht wurde der Protest durch Trumps Anmaßung, mit dem Einsatz des Militärs gegen die Protestierenden zu drohen, wovon sich sogar führende Republikaner*innen distanzierten. Auch in anderen Ländern, so in Deutschland, fanden trotz Corona Demonstrationen statt. Schilder mit den Parolen »black lives matter« und »I can’t breathe«, so die letzten Worte von George Floyd, waren zu sehen. Der Proteststurm in den USA verstärkt die Hoffnungen, dass Trump im November dieses Jahres abgewählt werden könnte.
Vorausgegangen sind frühere Proteste gegen ähnliche Übergriffe und ein jahrelanges zivilgesellschaftliches Engagement, u.a. die Gründung der Organisation »#BlackLivesMatter«, die 2013 von Patrisse Khan-Cullors in Los Angeles mitgegründet wurde. In ihrem Buch »#BlackLivesMatters« von 2018 berichtet sie über deren Entstehungsgeschichte, ihre Aktionen und über das umfassende alltägliche Erleben von Rassismus.
Ein aufrüttelndes Manifest gegen den Rassismus ist der von dem amerikanischen Journalisten Ta-Nehisi Coates geschriebene Brief an seinen Sohn »Zwischen mir und der Welt«, der 2015 veröffentlicht und weithin bekannt wurde. Seine Botschaft: Glaube nicht dem amerikanischen Traum, sehe die Realität, kämpfe! Im Unterschied zur Leitfigur der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, dem 1968 ermordeten Pastor Martin Luther King mit seiner berühmten Rede »I have a dream« – womit die Gleichheit aller Menschen gemeint ist –, ist Coates nicht religiös inspiriert. Für ihn gibt es für das jahrhundertlange Unrecht keinen Trost, keine religiös begründete Heilsbotschaft. Vielmehr fordert er eine reale demokratische Erneuerung in den USA, eine Wiedergutmachung und Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sklavenhaltung statt einer Verdrängung und nationalen Glorifizierung. Die von ihm aufgezeigte Realität zeugt von einer krassen Ungleichheit und tödlichen Gefährdung der schwarzen Bevölkerung in den USA, einem verbreiteten Rassenwahn, der seit jeher zu den schlimmsten Verbrechen geführt hat, mit dem Ziel, die Vorherrschaft der Weißen aufrechtzuerhalten. Doch Coates Kritik betrifft nicht allein die Polizei.
Diese ist für ihn ein Repräsentant der amerikanischen Bevölkerung: »In Wahrheit ist es so, dass die Polizei ein Spiegel Amerikas mit all seinen Wünschen und Ängsten ist, und was auch immer wir vom Strafrecht dieses Landes halten, man kann nicht behaupten, es sei von einer repressiven Minderheit durchgedrückt worden. Der Missbrauch, der daraus erwachsen ist – eine wuchernde Gefängnislandschaft, die wahllose Festnahme von Schwarzen, die Folter von Verdächtigen –, ist das Problem eines demokratischen Willens. Die Polizei in Frage zu stellen, bedeutet also, das amerikanische Volk in Frage zu stellen, das sie, bewaffnet mit den gleichen selbsterzeugten Ängsten, die jene Menschen, die sich für weiß halten, aus den Städten heraus- und in den Traum getrieben haben, in die Ghettos schickt.« (S. 82)
Wenn die Polizei tatsächlich ein Spiegel der amerikanischen Bevölkerung mit all ihren Wünschen und Ängsten ist, hat das Konsequenzen für eine Veränderungsstrategie. Wie verändern sich kollektive Mentalitäten? Was hat so viele Menschen bewogen, einen Rassisten, Chauvinisten und Nationalisten wie Trump zu wählen? So sehr zu wünschen ist, dass Trump im Dezember 2020 abgewählt und damit ein nachdrückliches Zeichen gegen Rassismus, Chauvinismus und Nationalismus gesetzt wird, muss mehr passieren als ein Präsidentenwechsel. Das hat nachdrücklich die Regierungszeit des ersten schwarzen Präsidenten, Barak Obama, gezeigt, die zweifellos einige positive Veränderungen gebracht hat, doch Rassismus und Ungleichheit sind geblieben.
Auf der Suche nach Antworten lohnt es sich, die vor drei Jahren in deutscher Übersetzung erschienene Forschungsarbeit von Arlie Russell Hochschild heranzuziehen: »Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten.« Ihre Besorgnis über die zunehmende feindselige Spaltung in den USA in zwei politische Lager veranlasste sie 2011, also lange vor der Trump-Wahl, im südlichen Louisiana, einem Schwerpunkt der amerikanischen Rechten, fünf Jahre Sozialforschung zu betreiben. Sie erkundete in vielen Interviews den sozialen Nährboden des Rechtspopulismus und damit auch der rassistischen Haltungen. Sie verweist auf eine sogenannte Tiefengeschichte als »gefühlte Sicht der Dinge, die Emotionen in Symbolsprache erzählen. Sie blendet das Urteilsvermögen und die Tatsachen aus und erzählt, wie die Dinge sich anfühlen. Ohne sie können wir meiner Ansicht nach die politischen Einstellungen der Rechten wie auch der Linken nicht verstehen. Denn wir alle haben eine Tiefengeschichte.« (S. 187)
Die Tiefengeschichte der von ihr interviewten Tea-Party-Anhänger beinhaltet zusammengefasst, dass die Menschen geduldig Schlange stehen, um den amerikanischen Traum oben auf der zu erklimmenden Hügelspitze zu erreichen, nach dem Motto: Jeder kann es schaffen. Aber sie kommen die letzten Jahrzehnte nicht weiter, fallen zurück, andere drängeln sich vor. Und zwar solche, die als bisher benachteiligte Gruppen durch alle möglichen staatlichen Hilfsprogramme gefördert werden, wie coloured people, Frauen, aus sexuellen Gründen diskriminierte Personen, Flüchtlinge etc. Wer ermöglicht ihnen das Vordrängeln? Der Staat! Allmählich fühlt sich besonders die Gruppe der weißen Männer benachteiligt. Ihr Stolz ist verletzt. Die Verbitterung derjenigen, die nicht vorankommen, wächst, damit auch der Hass auf den Staatsapparat, auf angeblich überhöhte Beamtengehälter, auf die Bereicherung und das Aussitzen der Probleme. Trotz des Gefühls der Benachteiligung (»Warum nicht wir?«) lehnt man es ab, als Opfer aufzutreten. Die Wut richtet sich gegen die Erosion traditioneller Werte, wie durch harte Arbeit für die Familie zu sorgen, Zusammenhalt in Familie und Nachbarschaft, Heimatverbundenheit, Religion als Lebensinhalt, damit verbundene Ansichten zu Abtreibung, Homosexuellen-Ehe, Genderrollen, Schusswaffen, das nationale Symbol der Konföderierten-Flagge. Die Folge ist, sich im eigenen Land fremd zu fühlen.
Hochschild kommt zu dem Fazit, »dass für Trumps Aufstieg optimale Voraussetzungen bestanden wie beim Zunder, bevor das Streichholz gezündet wird«. In ihrem Nachwort zur deutschen Ausgabe 2017 benennt sie die Notwendigkeit, dass sich die Demokratische Partei entschiedener um die Sorgen und Nöten der Familien kümmern, für gute, sichere Arbeitsplätze und Umschulungsmaßnahmen eintreten, sowie entschlossen die Grundprinzipen der Demokratie verteidigen soll. In den USA zeigt sich gerade durch die Corona-Pandemie der eklatante Mangel an sozialstaatlicher Absicherung und Daseinsvorsorge. Für viele Millionen von amerikanischen Frauen und Männern hat sich die soziale Lage dramatisch verschlechtert, ganz besonders für die schwarze Bevölkerung.[1] Der Traum vom Aufstieg ist für viele, die ihre Arbeit verloren haben, dem puren Überlebenskampf gewichen.
Die Konfrontation hat sich aktuell enorm zugespitzt, in der Presse wird sogar von Bürgerkrieg geredet, was ein Desaster großen Ausmaßes werden könnte. Trump ist dabei, die Spaltung voranzutreiben, indem er die Protestierenden als Terroristen diffamiert und gewaltsame Maßnahmen für legitim hält. Ein Weg muss gefunden werden, eine Eskalation der Gewalt zu stoppen, die viele Menschenleben gefährden würde. Auch wenn es nicht ohne Konflikte geht, beinhaltet eine heutige sozialistische Perspektive, einen Gewalt minimierenden Übergang zu einer anderen Gesellschaft anzustreben. Es ist Zeit für die amerikanische Gesellschaft, den Rassismus endlich zu verbannen, sich ihrer Geschichte zu stellen und sich der von der amerikanischen Verfassung beschworenen Gleichheit in all ihren materiellen Konsequenzen zu nähern.
[1] Siehe dazu Bischoff/Müller: »The Great Lockdown«, in: Sozialismus 5/2020; Redaktion Sozialismus, Überraschung am US-Arbeitsmarkt mindert die sozialen Spannungen nicht, Sozialismus.deAktuell 7.6.2020
9. Juni 2020 Stephanie Odenwald, sozialismus