EU-Kommission will Löhne in Europa drücken: Angriff auf Tarifautonomie
Die Brüsseler EU-Kommission sichert sich immer mehr Einfluss auf die Lohnpolitik der Mitgliedsstaaten. In den südeuropäischen Krisenländern Griechenland, Portugal, Spanien, aber auch in Irland, intervenierte sie in den zurückliegenden Jahren mit dem Instrument der »Troika« ganz direkt, um eine unsoziale Politik durchzusetzen, was eine soziale und humanitäre Krise sowie einen Demokratieabbau in Europa zur Folge hatte.
Mit einer brutalen Kürzungspolitik wurde insbesondere Griechenland in die tiefste Rezession und damit zugleich in die höchste Staatsverschuldung der gesamten EU getrieben. Ein Drittel der Bevölkerung lebt in Armut, soziale Absicherungen wurden massiv geschwächt, der Mindestlohn um 22% gesenkt, das Tarifvertragssystem und andere Schutzrechte für noch Beschäftigte demontiert. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 27%, unter Jugendlichen sogar auf über 50%.[1]
Mit dem Beharren der Troika, der Euro-Gruppe und der deutschen Bundesregierung auf Sozialabbau, Zerstörung des Tarifvertragssystems, Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur und Massenbelastungen werden wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, hohe Arbeitslosigkeit und zunehmende Ungleichheit im gemeinsamen Währungsraum zum Dauerzustand gemacht. In den letzten Wochen erleben auch die ArbeitnehmerInnen in Finnland und Großbritannien massive Angriffe auf Gewerkschaftsrechte und Tarifautonomie.
In einem im Juni in Brüssel veröffentlichten Bericht unter dem Titel »Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden« – verfasst von Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, Donald Tusk, Präsident des Euro-Gipfels, Jeroen Dijsselbloem, Präsident der Euro-Gruppe, Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, und Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments – wird gefordert, die Wirtschaftspolitiken in der EU zu »koordinieren«, um ökonomische »Ungleichgewichte« zu verhindern.
Auf der Basis des Berichtes der »big Five« legte die Kommission Mitte Oktober einen »Entwurf zur Reform der Eurozone«[2] vor, in dem vorgeschlagen wird, künftig in allen EU-Ländern »Ausschüsse für Wettbewerbsfähigkeit« zu etablieren. Diese Gremien (»competitiveness authorities«), die aus »unabhängigen Experten« gebildet werden sollen, sollen »zu einer stärkeren Eigenverantwortung für die notwendigen Reformen auf nationaler Ebene« beitragen, in dem die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit gestärkt und die makroökonomische Ungleichgewichte abgebaut werden. Dazu soll die wirtschaftspolitische Entwicklung begutachtet und neben Faktoren wie Produktivität und Innovationsstärke insbesondere die Arbeitskosten verglichen werden.
So die blumenreiche Umschreibung des geplanten »Eingriffs in die Tarifautonomie«, was den Europaabgeordneten der Linken, Thomas Händel, auf seiner Website zu der Schlussfolgerung veranlasst: »Die in den europäischen Krisen-Staaten durchexerzierten und bereits im ›Mechanismus gegen Makroökonomische Ungleichgewichte‹ enthaltenen Eingriffe in die Tarifautonomie sollen für die gesamte Eurozone institutionalisiert werden.« Wenn »unabhängige Experten den Tarifparteien die Richtschnur vorgeben«, werde »faktisch ein Wettlauf nach unten bei den Löhnen« als Richtschnur festgezurrt. Das heißt, das Land mit der jeweils schlechtesten Entgeltentwicklung wird zum Standard erhoben, an dem sich alle anderen zu orientieren haben.
Für den DGB stellen diese geplanten, vorgeblich unabhängigen »Experten«-Ausschüsse zu Recht einen »unzulässigen Eingriff in das verfassungsrechtlich garantierte Prinzip der Tarifautonomie dar«. Die Gewerkschaften befürchten, so DGB-Chef Rainer Hoffmann, staatliche Interventionen in nationale Kompetenzen der Tarif-»Partner« bei der Lohnfestsetzung und der künftigen Gestaltung der Arbeitszeit wie der Arbeitsbedingungen.
Für das DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell sind die vorgeschlagenen Wettbewerbsräte deshalb ein weiteres Beispiel dafür, wie die EU-Kommission unter Überschriften wie »Entbürokratisierung« oder »Stärkung des Wettbewerbs« ihre Kompetenzen zunehmend überschreitet und demokratische Rechte und Prozesse in der EU aushebelt. Der Gewerkschaftsbund forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem »Brand-Brief« auf, sich in Brüssel für die »grundsätzliche Zurückweisung« des Vorschlags einzusetzen und klarzumachen, »dass Deutschland keinen nationalen Ausschuss für Wettbewerbsfähigkeit einrichten wird«. (FAZ vom 27.10.2015) Das Thema steht voraussichtlich am 17. Dezember auf der Tagesordnung des Europäischen Rats.
Der beschränkte Fokus der EU-Kommission auf die (preisliche) Wettbewerbsfähigkeit habe wahnhafte Züge und verhindere die Etablierung einer wirklich fortschrittlichen wirtschaftspolitischen Steuerung in Europa – einer Strategie, die die Nachfrage hierzulande weiter stärkt und auch strukturschwache EU-Regionen mit Investitionen zukunftsfähig macht, heißt es im DGB-Klartext (29.10.2015). Die neuen Pläne der EU-Kommission würden die bisherigen Fehlentwicklungen weiter stützen, Ungleichgewichte auf die globale Ebene verlagern und neue Krisen fördern.
Auch wenn die EU-Kommission den Verdacht zurückweist, man wolle sich in das »Geschäft der Sozialpartner« einmischen, stellt sich die Frage: Über welche demokratische Legitimation sollen diese »Wettbewerbsräte« denn verfügen? Wurde doch gerade am Beispiel Griechenland offenkundig, dass eine mit großer Mehrheit gewählte demokratische Regierung faktisch bedeutungslos ist, wenn die Gläubiger-Staaten unter Führung des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble es so wollen.
Durch die Überwachung der nationalen Haushaltsbudgets kann die EU schon heute tief in die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik eines Landes eingreifen. So wurden bereits im 2011 beschlossenen »Euro-Plus-Pakt« niedrige Lohnabschlüsse im öffentlichen Dienst angemahnt, um damit Signale für Tarifverhandlungen in der Privatwirtschaft zu setzen. Darüber hinaus existiert ein Verfahren zur makroökonomischen Koordinierung, bei der die EU die Mitgliedsstaaten überwacht und eine Vielzahl ökonomischer Kriterien beobachtet, darunter auch die Lohnstückkosten.
Die ablehnende Position des DGB wird vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) unterstützt, der über 90 Gewerkschaftsverbände in 39 Ländern repräsentiert. Das Vorhaben der Kommission sei nicht vereinbar mit den EU-Verträgen und ILO-Konventionen, warnte EGB-Generalsekretär Luca Visentini seinerseits in einem Brief an EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Die europäische Wirtschaft leide nicht unter zu hohen Löhnen, sondern unter fehlenden Investitionen und geringer Binnennachfrage. Die geplanten »Wettbewerbsausschüsse« dienten einzig dem Zweck, »die in den südeuropäischen Ländern angewandte einseitige Sparpolitik der EU und neoliberalen Strukturreformen zur Pflicht aller Mitgliedsländer zu machen«.
Es ist gut, dass der DGB Alarm schlägt und den Vorstoß strikt ablehnt. Denn eine Politik der Spardiktate fördert nationalen Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit und andere antidemokratische Stimmungen in den Ländern Europas. Deshalb dürfen die schon vorhandenen demokratischen Legitimationsdefizite auf europäischer Ebene nicht noch zusätzlich durch Eingriffe in die Tarifautonomie zementiert werden.
Wenn dem europäischen Projekt neue Glaubwürdigkeit gegeben werden soll, ist es notwendig, die Demokratie auf EU-Ebene zu stärken. Das kann nur durch eine demokratische Initiative von unten für wirtschaftlichen Wiederaufbau und mehr soziale Gerechtigkeit geschehen.
[1] Vgl. Erklärung Griechenland nach der Wahl − Keine Gefahr, sondern eine Chance für Europa der Initiative »Europa neu begründen«.
[2] Europäische Kommission Fact Sheet »Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion«, Brüssel, 21. Oktober 2015.
Otto König / Richard Detje, Sozialismus, 7.11.15