Frankreich vor der Entscheidung: »Renaissance« oder neue ökologische und soziale Reformen
In der zweiten Maiwoche 2022 mussten sich die politischen Lager in Frankreich für die Parlamentswahlen aufstellen, deren erster Wahlgang am 12. Juni stattfindet, es folgt die Stichwahl eine Woche später. Der wiedergewählte Staatspräsident Emmanuel Macron benannte seine Bewegung nach dem Übertritt einiger Granden aus der Republikanischen Partei um in »Renaissance« (Wiedergeburt).
Die Linke fand sich wider Erwarten zu einem noch weitergehenden Bündnis zusammen. Die neue Hoffnung auch für eine sehr große Mehrheit der Wählerschaft heißt »Nouvelle Union Populaire écologiste et sociale« (NUPES – Neue ökologische und soziale Volksunion). Das Bündnis könnte die Linke erneut an die Tore der Macht bringen, sei es in der Form der Kohabitation (eine entsprechende Mehrheit im Parlament zwingt den bürgerlichen Staatspräsidenten dazu, einen linken Ministerpräsidenten mit der Regierungsbildung zu beauftragen) oder gar in einer späteren Präsidentenwahl – eine wahrhaft historische Zäsur.
Nach dem Zerfall des linken (2017) und rechts-bürgerlichen (2022) Parteienspektrums hat sich eine neue politische Großwetterlage ergeben. Die wiedererstandene Linke opponiert sowohl gegen die macronitische Mitte der Modernisierung als auch gegen den nationalistisch-identitären Block, der 40-45% der Wählerschaft umfasst. Macrons Hoffnung, in der Konfrontation mit dem Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen sowie Eric Zemmours »Reconquête« (Rückeroberung) als einziger relevanter Träger republikanischer Werte, der Vernunft und sozialpartnerschaftlichen Erneuerung weitere Teile der Linken (Sozialdemokraten und Grüne) hinter sich zu sammeln, ist gescheitert.
Zeigt NUPES die »erforderliche Reife, um dem ganzen Land zu beweisen, dass sie eine Kraft sind, die auf demokratischem Wege die gesamte Gesellschaft zur Rettung und Erneuerung führt«? – wie es der Generalsekretär der italienischen Kommunisten, Enrico Berlinguer, in den 1970er Jahren formuliert hat.[1]
Zuerst einmal hat man sich die »Re-Parlamentarisierung des politischen Lebens in Frankreich« vorgenommen »in einem Moment, wo der Präsidentialismus ins Extreme getrieben worden ist«, verkündete Jean-Luc Mélenchon bei der Vorstellung des Wahlprogramms. Die nebulöse Forderung nach einer 6. Republik wird nun präzisiert durch den Übergang zu einem reinen Verhältniswahlrecht, mehr Volksabstimmungen und weiteren Verfassungsänderungen, um der »ökologischen Weggabelung« (»Bifurcation«) mehr Gewicht zu geben.
650 Punkte umfasst das Wahlprogramm. Es beginnt mit dem Kapitel »Sozialer Fortschritt von der Beschäftigung bis zu den Renten«: Dazu gehört die Erhöhung des Mindestlohns auf 1.500 Euro oder die Rückkehr zu einem Ruhestand im Alter von 60 Jahren mit 40 Rentenjahren. Dann sollen die Altersbezüge mindestens das Niveau des Mindestlohns haben, auf keinen Fall aber unter der statistischen Armutsgrenze liegen.
In Bezug auf die Ökologie, dem mit 139 Forderungen umfänglichsten Abschnitt, verspricht man eine Reduktion der Treibhausgas-Emissionen um 65% bis 2030 und »zur ökologischen und bäuerlichen Landwirtschaft« überzugehen, die Mehrwertsteuer für den ÖPNV zu senken, Flüge unter drei Stunden zu verbieten und mindestens eine Million Arbeitsplätze durch Investitionen in ökologische und soziale Branchen zu schaffen. Dazu soll ein »Pol öffentlicher Banken« geschaffen werden, zu dem nach den Vorstellungen von »La France insoumisee« (Unbeugsames Frankreich – LFI) und Kommunisten die Großbanken nationalisiert werden sollen (was so nicht im NUPES-Programm steht). Die Re-Nationalisierung kritischer Infrastruktur von Post, Bahn, Strom steht erstmal nur im Programm von LFI und Kommunisten. Der Ausstieg aus der für Frankreich und seine gute CO2-Bilanz essentiellen Atomenergie bleibt so umstritten, dass dazu im Programm nichts steht.
Haushaltspolitisch ist das Programm eher dürftig: Wiederherstellung der Vermögenssteuer durch Aufnahme einer Klimakomponente und Begrenzung der Erbschaft auf 12 Mio. Euro, um die Autonomie junger Menschen zu finanzieren. Das zentrale und mit Abstand wahlbestimmende Anliegen der französischen Bevölkerung bleibt die Kaufkraft: Die vereinte Linke sieht Preiskontrollen und umfassende Preisstopps vor.
Die Linke plant im Kapitel »Öffentliche Dienste«, dass alles innerhalb von 30 Minuten vom Wohnort zu erreichen sein muss, die Anzahl der Schüler*in pro Klasse reduziert wird und 100.000 Pflegekräfte für das Krankenhaus. Im Kampf gegen Diskriminierung sollen unter anderem eine Milliarde Euro für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen bereitgestellt und das so genannte Antiseparatismusgesetz (Kontrolle der Moscheen usw.) aufgehoben werden.
Die beteiligten Parteien »teilen das gemeinsame Ziel, dem liberalen und produktivistischen Kurs der EU ein Ende zu setzen«. Die Partner erinnern daran, dass ihre »Geschichte mit der europäischen Integration unterschiedlich ist«, aber dass sie alle »die europäische Politik in Richtung sozialer Gerechtigkeit, Ökologie, menschlichen Fortschritts und der Entwicklung öffentlicher Dienstleistungen umsteuern wollen«. Dafür seien sie »bereit, bestimmte Regeln nicht zu respektieren«. Dies ist für LFI ein eindeutiges Zugeständnis der Mäßigung im Interesse der Regierungsfähigkeit. Im Ziel sei man sich ja einig.
Zur NATO findet sich in dem Dokument genau nichts, da man (mit den Worten Mélenchons) »weiß, dass der Staatspräsident nichts unterzeichnen wird, das den Austritt aus der NATO betreffen könnte«.
Die französische Linke hat sich in einer kaum noch für möglich gehaltenen Anstrengung zu neuer republikanischer Disziplin aufgerafft. Angesichts des nur mäßigen Wiederwahl-Erfolges des amtierenden Staatspräsidenten und einer manifest gewordenen Möglichkeit, dass die nationalistisch-identitäre Rechte die Staatsmacht auf legalem Wege erringt, verständigten sich Kommunisten, Grüne und Sozialdemokraten mit der Bewegung Unbeugsames Frankreich (LFI) des knapp gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon auf gemeinsame Listen zur Präsidentschaftswahl.
Die Achilles-Ferse auch dieses Neuanfangs der Linken liegt in ihrer Missachtung der notwendigen Reform der produktiven Basis des Landes.[2] Macron verspottet das Wahlbündnis als »Linksextreme, die nur durch ein Ideal zusammengehalten werden, das eines negativen Wirtschaftswachstums«.
Die Dynamik, die der Zusammenschluss ausgelöst hat, macht die Linke in den Umfragen zur stärksten Kraft. Die soziale Spaltung prägte schon die Entscheidung in der Präsidentschaftswahl.[3] Es bleibt abzuwarten, ob die Umverteilungsforderungen dieses Momentum so verstärken, dass daraus eine wirklich gesellschaftsverändernde Auseinandersetzung entsteht, die auch die bisher passiv gebliebenen Teile der classes populaires einbezieht.
Historisch unterscheidet sich das linke Bündnis NUPES von seinen Vorläufern:
- der mythisch verklärten Volksfront der 1930er Jahre, die eine Koalition von linken und bürgerlichen Parteien (und ihrer historischen Führer Léon Blum, Maurice Thorez, Edouard Daladier) war, die durch die Streikbewegungen zu immer neuen und weitreichenden Sozialreformen (bezahlter Urlaub) gezwungen wurde.
- der Linksunion von Sozialisten und Kommunisten Ende der 1970er Jahre, die aufgrund eines intensiven politisch-wissenschaftlichen Diskussionsprozesses ein »Gemeinsames Programm« vor Regierungsantritt formuliert hatte – mit der erklärten Absicht einer Umgestaltung und eines »Sozialismus in den Farben Frankreichs« mit weitreichenden Nationalisierungen und Elementen der zentralen Planifikation.
- der »Gauche plurielle« von Kommunisten und Sozialdemokraten Ende der 1990er Jahre (unter Lionel Jospin), die einen Kompromiss darstellte zwischen neoliberalen Modernisierungsansätzen (Privatisierung von Staatseigentum) und linken Reformmaßnahmen (35-Stunden-Woche).
Das Bündnis verdankt sich auch dem französischen Verfassungs- und Wahlrecht, das zwei Wahlgänge von Mehrheits- und Verhältniswahl vorsieht. Das eigene desaströse Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen 2017 und jetzt 2022 zwang die traditionellen Parteien zu Kompromissen mit der Bewegungslinken LFI, um wenigstens ein paar eigene Leute ins Parlament zu schicken. Sollten sich dabei eigene Fraktionsstärken abzeichnen (>15 Mandate), wächst die Versuchung, eigene Wege zu gehen. In einer Projektion kam das Umfrage-Institut Harris zu dem Ergebnis, dass LFI, Sozialisten und Grüne jeweils sehr wahrscheinlich eine eigene Fraktion bilden können, was für die Kommunisten eher fraglich ist.
Die Zukunft von LFI ist aufgrund des hohen Lebensalters ihres Spitzenmannes (Jahrgang 1951) mehr als ungewiss. Mélenchon hat werbewirksam seine Kandidatur als Ministerpräsident angekündigt, verzichtet aber auf einen Sitz in der Nationalversammlung, um ggf. mehr Spielraum in solchen Konflikten zu haben. Einige symbolische Konflikte bei der Listenaufstellung in Paris und Lyon um Personen mit migrantisch-identitärem Profil und Vorstrafen geben Auskunft über die Labilität im Linksbündnis und sorgten für lokalen Unmut und nationale Aufmerksamkeit. Wem das Ganze nicht passt, kann die »Neue anti-kapitalistische Partei« wählen, die dem Bündnis nicht beigetreten ist und die in der Vergangenheit auch von deutschen Linkspolitikern hofiert wurde.
Die Sozialdemokraten hat das Bündnis auf eine weitere Stufe der Spaltung geführt: Die ehemaligen Regierungslinken gehen nicht mit zu NUPES, sondern schließen sich teilweise Macron an, oder versuchen eine eigene Liste zu präsentieren. Andererseits hatte sich die Strömung »Generations.s« bereits nach den Wahlen 2017 LFI angeschlossen. Stephane Le Foll, Landwirtschaftsminister und Regierungssprecher unter Hollande, verkündete: »Das ist das Ende des PS wie es sie bisher gab, das ist das Ende des französischen Sozialismus. Alles muss neu aufgebaut werden.«
Parteigrößen wie François Hollande, 2012 letzter vom PS gestellter Staatschef, Bernard Cazeneuve, ehemaliger Premierminister, oder auch der frühere Erste Sekretärs der Partei, Jean-Christophe Cambadélis, die im PS-Jargon »Elefanten« genannten Altvorderen und ihr über Jahre gepflegter Hass auf Mélenchon, erlitten eine Niederlage im Nationalrat der PS (167 der 292 Delegierten, 62%), die von Parteisekretär Olivier Faure geführt wird. Cazeneuve will den PS nach eigenen Angaben verlassen. Aus dem Kreis der historischen Führer stellte sich lediglich die Bürgermeisterin von Lille, frühere PS-Sekretärin und Ministerin Martine Aubry (Madame 35-Stunden-Woche), auf die Seite Faures und der Unionsbefürworter.
Allein 70 Mandate sollen an die (mit weniger als 2% bei der Präsidentschaftswahl untergepflügten) Sozialdemokraten fallen, die Mélenchon 2008 verlassen hatte. Adrien Quatennens, Partei-Koordinator von LFI, kommentiert das als Beweis der Großzügigkeit: »Denn wir wollten, dass es eine Vereinbarung gibt, die alle mitnimmt, und wir sind uns bewusst über die territoriale Verankerung der unterschiedlichen politischen Formationen«.
Das Wahlrecht fördert auch die systematische Ausgrenzung der extremen Rechten im Parlament, der keine solche Bündnisabsprachen offenstehen. In der erwähnten Projektion werden Zemmours »Reconquête« und die Nationalkonservativen mit Einzelvertretern ins Parlament gelangen, aber anders als RN keine Fraktion bilden können. Dies gelingt wahrscheinlich den Republikanern, die zwar zur Sekte schrumpfen und sich weiter über das Verhältnis zu Macron bzw. zur Ultra-Rechten zerstreiten.
Ein ähnliches Dilemma wie auf der Linken könnte Macron drohen. Sein Wahlverein soll trotz gesunkener Stimmanteile zur Partei »Renaissance« werden – damit steht sie für keine »Reformation«. Ein Wahlplakat soll erst einmal in der Parlamentswahl die Grundlagen für die Präsidentschaft legen. Neben dem traditionellen Bündnispartner der liberalen MoDem von Francois Bayrou (110 Kandidaturen) soll die Partei »Horizons« treten, die der ehemalige (und beliebtere) Ministerpräsident Edouard Philippe gegründet hat, dem man schon vor dem letzten Wahlkampf Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt hatte. Er stellt 58 der 400 gemeinsamen Kandidaten und kann damit die Fraktionsstärke (15 Sitze) erreichen. Da Macron nach dem Auslaufen der jetzt beginnenden zweiten Amtszeit erst einmal pausieren muss, also nicht wieder antreten darf, könnte sich aus dieser Fraktion eine bürgerliche Opposition entwickeln, die Macron das Regieren erschwert, falls die bürgerlichen Kräfte doch die Mehrheit in der Nationalversammlung erringen.
Die Prognosen für die Wahlen zur Nationalversammlung zeigen die große Skepsis unter den Bündnispartnern von NUPES: Fast zwei Drittel meinen, Grüne, PS und PCF hätten im Rahmen des Bündnisses jeweilig »fundamentale Werte und Ideen aufgegeben«. Unter den Arbeitern ist diese Meinung nur bei jedem zweiten zu finden. Die Einschätzung, hier sei verzichtet worden, bezieht sich vor allem auf die Europa- und die Atomkraft-Frage. Ein knappes Fünftel der diversen sich als Links verstehenden Menschen betrachtet das Bündnis als »nicht nützlich, um eine parlamentarische Mehrheit zu erreichen«.
Dementsprechend ist die Wahlbereitschaft auch weniger ausgeprägt als im Lager Macrons (Verteidigung) und Le Pens (Revanche). Eine parlamentarische Mehrheit Macrons scheint daher greifbar und die Integration der Linken über den Tag hinaus eine Aufgabe, will sie mehr als ein punktuelles Wahlbündnis sein.
Anmerkungen
[1] Enrico Berlinguer, Austerität – Gelegenheit zur revolutionären Erneuerung Italiens, in: Joachim Bischoff/Jochen Kreimer (Hrsg.), Sozialismus für Italien, Programm einer gesellschaftlichen Umgestaltung. Hamburg/Westberlin 1977, S. 216. Dazu sei die »Überwindung der negativen und fehlgeleiteten Verhaltensweisen der Unterordnung bzw. des Extremismus« notwendig. »Diese stellen immer noch eine nicht übersehbare Belastung dar und im konkreten Fall verhindern sie die positive Lösung brennender und akuter Probleme, wie z.B. die Sanierung von Wirtschaft, Produktion und Finanzen der Gesellschaft und des Staates.«
[2] Vgl. Redaktion Sozialismus.de, Kann Macron die tiefe soziale Spaltung Frankreichs überwinden? Heft 5-2022.
[3] Vgl. zur Auswertung des zweiten Wahlgangs: Bernhard Sander, Ende gut? Ende offen, in: Sozialismus.deAktuell vom 25.4.2022.
2. Juni 2022 Bernhard Sande, aus: Sozialismus