Fürsorge oder Manipulation?
Nudging ist eine Methode zur Beeinflussung von Menschen. Kein Wunder, dass sich die Politik dafür interessiert
Verhaltensforscher Cass R. Sunstein ist überzeugt, dass man ohne Verbote und Verordnungen besser und wirksamer regieren kann. Es braucht lediglich Nudges – zu deutsch: Anstupser – , um die Menschen dahin zu bekommen, wo man sie haben möchte. Das ist auch in Deutschland angekommen. Während die Projektgruppe der Bundesregierung nichts darüber verlauten lässt, an welchen Nudges sie arbeitet, wird unter Psychologen, Hirnforschern, Ökonomen und Politikwissenschaftlern darüber gestritten, ob bzw. unter welchen Umständen die Methode überhaupt legitim ist.
Die Befürworter werden nicht müde aufzuzählen, welche erstaunlichen Erfolge in anderen Ländern mit Nudging bereits erreicht wurden. In Kalifornien soll es gelungen sein, den Energieverbrauch zu senken, um den regelmäßig im Sommer auftretenden Zusammenbruch der Stromversorgung – ein allgemeines Ärgernis – zu beseitigen. In Großbritannien verbesserte sich angeblich die Steuermoral, nachdem das Finanzamt Säumigen per Brief freundlich mitgeteilt hatte, dass die meisten Briten anders als sie ihrer Steuerpflicht pünktlich nachkommen. Und in Dänemark warfen die Leute deutlich mehr Abfälle in dafür aufgestellte Tonnen, seit auffällige grüne Fußstapfen sie dorthin lenkten. Diese Beispiele überzeugen viele Menschen, lassen ihnen die Freiheit der Entscheidung; Ziel und Methode sind transparent.
Die wissenschaftliche Grundlage für das, was von der Wirtschaft seit langem – nur unter anderem Namen als Nudging – geschieht, lieferte der Psychologe Daniel Kahnemann, der mit seinen Studien in den 1970er Jahren die neue Disziplin der Verhaltensökonomie (Behavioral economics) begründete und dafür den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt. Kahnemann kam zu dem Ergebnis, dass Menschen häufig nicht vernünftig aufgrund einer Analyse entscheiden, sondern spontan. Beeinflusst werde ihre Entscheidung vielmehr davon, wie ein Problem oder Lösungsmöglichkeiten vorgestellt werden. Gefühle und Schlüsselreize spielten eine große Rolle Die Wirtschaft erkannte sofort, welche Einflussmöglichkeiten auf Kunden daraus erwuchsen. Jede weitere Erkenntnis der Verhaltensökonomen griff man begeistert auf.
Inzwischen macht die Forschung insbesondere von Neuroökonomen weitere Fortschritte. Die funktionelle Kernspinntomographie erlaubt ihnen, Hirnaktivitäten bei Verhandlungen oder Kaufentscheidungen zu verfolgen. Colin Camerer, Professor für Wirtschaftswissenschaften am California Institute of Technology, räumt ein, dass die Vorgänge im Gehirn dennoch bis heute nur in Ansätzen verstanden würden. Was man weiß, berge aber bereits große Chancen, Mechanismen zu entwickeln, »die all denen von uns helfen, die sich nicht zu helfen wissen.« Geschehen soll das durch die Architektur der Rahmenbedingungen und sogenannte Entscheidungsanker. Wenn ein Restaurant den Absatz etwas teurerer Gerichte erhöhen will, genügt es meist, sehr teure Gerichte zusätzlich auf die Karte zu setzen. Auch wenn sie kaum jemand bestellt, erscheinen die Gerichte der mittleren Preislage plötzlich akzeptabel.
Erst nachdem der Jurist Cass Sunstein von der Harvard Universität und Richard Thaler, Wirtschaftswissenschaftler in Chicago, 2008 ihr Buch »Nudge« veröffentlichten, entdeckte die Politik die Methode der sanften Steuerung von Menschen zu (angeblich) ihrem Besten. »Entscheidungsarchitekten« traten auf den Plan. Sie sollen Prozesse so gestalten, dass das gewünschte, angeblich vernünftige Verhalten bewirkt wird, ohne die Freiheit der einzelnen Beteiligten einzuschränken. So die Theorie. Die Regierungen in den USA und Großbritannien waren die ersten, die von der Methode Gebrauch machten. In den USA hat Nudging zu grundsätzlichen Änderungen bei der Altersvorsorge geführt. Weil Arbeitnehmer zu dumm sind, so die Idee, ausreichend für Ihr Alter vorzusorgen, werden in den USA Unternehmer ermutigt, für ihre Mitarbeiter Rentensparpläne zu schaffen, die in Kraft treten, solange der Mitarbeiter nicht ausdrücklich widerspricht. In Großbritannien gibt es ein ähnliches Modell. Die Summe für die spätere Zusatzrente wird automatisch abgezogen. Die Sparquoten sind stark gestiegen. Und den Versicherungskonzernen hat es auch genützt.
Prof. Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPI) in Berlin, kritisiert das Menschenbild hinter der Nudgingmethode. »Vertreter des Nudging glauben, dass menschliches Verhalten systematisch von rationalem Handeln abweicht und es angeblich auch wenig Hoffnung gibt, dass wir den Umgang mit Risiken lernen können.« Also müsse der Staat eingreifen, um die Menschen vor sich selbst zu schützen, und zwar nicht durch Gesetze oder finanzielle Anreize, sondern indem er ähnliche psychologische Methoden verwendet wie Werbung und Industrie. Man brauche aber mehr mündige Bürger in unserem Land statt mehr Menschen, die von anderen gelenkt werden, meint Gigerenzer und setzt auf Bildung und Aufklärung.
Wird genau das nicht seit Jahren vergeblich versucht, zum Beispiel beim Thema Ernährung? Die Zahl der Übergewichtigen und Adipösen hat dennoch zugenommen. Fragt man sich aber, warum das so ist, stößt man rasch auf all die verhaltensökonomischen Tricks, die uns eben nicht zu den richtigen, sondern zu den für die Wirtschaft profitablen, für den Konsumenten deshalb noch lange nicht besseren Entscheidungen führen.
Lucia Reisch, Professorin an der Copenhagen Business School und Vorsitzende des Sachverständigenrates für Verbraucherfragen beim deutschen Justizministerium, verteidigt Nudging als legitime Lenkung menschlicher Entscheidungen durch die fürsorgliche Instanz des Staates. Die beschönigende Bezeichnung dafür lautet »Libertärer Paternalismus«. Für sie macht die Transparenz der Ziele den entscheidenden Unterschied zur Manipulation.
Die Diskussion über die Methode ist legitim. Aber mindestens genauso wichtig wäre die Frage, welche Ziele die Regierung in wessen Interesse setzt, wer die Entscheidungsarchitekten sind, die die Rahmenbedingungen und Entscheidungsanker festlegen, denen die Bürger ausgeliefert werden sollen, um sich »richtig« zu entscheiden – heute für gesunde Ernährung und morgen vielleicht schon für einen Krieg.
Informationen
Unter dem Titel »Zwischen Manipulation und Selbstbestimmung« diskutiert auch der Landestag der Psychologie in Stuttgart am 11. Juli über Nudging. Der Veranstalter – die Landesgruppe Baden-Württemberg des Berufsverbandes Deutscher Psychologen – lädt Interessenten dazu herzlich ein (www.bdp-bw.de). csch
Von Christa Schaffmann, 11.06.15, nd