Gießener Linke fordert Verzicht auf den Bau der Ortumgehung Reiskirchen (B49)
Im Januar 2025 soll der seit Jahrzehnten größte Straßenbau im Kreis Gießen starten: Die geplante Südumgehung um Reiskirchen und Lindenstruth, also ein Neubau der B49 mitten durch eine ökologisch wertvolle Landschaft und direkt am Rand der geschützten Jossolleraue.
Mehrere geschützte Arten wurden dafür „vergrämt“ (Begriff aus der Planung), sprich: vertrieben. Vor allem aber trifft es Landwirtschaft, die nahegelegene Kirschbergschule, in der Nähe wohnende Reiskirchener*innen, das Martinsheim in Lindenstruth und die Pferdehaltung des Sonnenhofes.
Begründet wird die Ortsumgehung mit den „derzeitigen und den prognostizierten Verkehrsstärken“, die die Verkehrssicherheit insbesondere für nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer stark einschränkten.
2005 wurden von Hessen Mobil am östlichen Ortseingang von Lindenstruth rund 9100 Fahrzeuge binnen 24 Stunden gezählt. Am westlichen Ortsausgang von Reiskirchen waren es sogar 15 800 pro Tag. In den 15 Jahren bis 2020 sollte diese Zahl auf den am stärksten befahrenen Abschnitten der Ortsdurchfahrt Reiskirchen auf 24 600 Fahrzeuge täglich steigen. Doch die Realität sieht anders aus.
Zwischen dem 12. und dem 26. April dieses Jahres stellten Verkehrswendeaktivisten zwei Wochen lang in Lindenstruth ein automatisches elektronisches Zählgerät auf, dessen Daten vom Verkehrszählungsunternehmen Telraam in Belgien ausgewertet wurden. Zur Kontrolle wurden zwei Nächte und ein Tag lang Strichlisten geführt, um die Zahlen mit denen der automatischen Auswertung abzugleichen.
Das Ergebnis: Statt der laut der Hessen-Mobil-Prognose erwarteten 13 100 Fahrzeuge wurden in Lindenstruth nur 7417 gezählt. Damit liegt die Prognose also um 76,62 Prozent zu hoch. Geht man von den damals gezählten 10 075 Fahrzeugen pro Tag aus, dann hat der Durchgangsverkehr in Lindenstruth nicht zu-, sondern deutlich abgenommen.
Ähnlich groß ist die Abweichung in Reiskirchen. Wurden 2005 in der Kerngemeinde noch 12 630 Fahrzeuge pro Tag am Beginn der Planung gezählt, waren es zwischen dem 5. und 16. Mai 2024 nur noch 10 413 und nicht die prognostizierten 16 800 Fahrzeuge – eine Abweichung von plus 61,34 Prozent.
2005, 2010 und 2015 haben die regelmäßigen Straßenverkehrszählungen (SKZ) von Hessen Mobil selbst diesen Trend des zurückgehenden Verkehrs bestätigt. Sie lagen den Behörden vor. 2014 zählten die Planer:innen selbst nochmal nach und kamen zu dem selben Ergebnis. Geändert hat dies nichts.
Der eigentliche Skandal: Die Zahlen, die der Straßenplanung zugrunde liegen, stimmen nicht, womöglich sind sie frei erfunden.
Das hessische Verkehrsministerium als Planfeststellungsbehörde wusste zudem im gesamten Planungsprozess, dass die Zahlen völlig falsch waren, aber wischte selbst die abweichenden, viel niedrigeren Zählungen aus dem eigenen Hause als „unplausibel“ weg.
Für diese Entwicklung, die scheinbar dem weiter wachsenden Straßenverkehr widersprechen, gibt es zwei gute Gründe: Da wäre zum einen die vor 20 Jahren eröffnete Autobahnabfahrt Grünberg, die dem Schwerverkehr ermöglicht, direkt in das Grünberger Gewerbegebiet zu fahren, ohne sich wie früher durch Reiskirchen und seine Ortsteile quälen zu müssen. Gleiches gilt für Bürger aus dem Ostkreis und Vogelsbergkreis, die zur A5 wollen. Zum anderen führt der Bevölkerungsrückgang im Vogelsberg zu einer Abnahme des Durchgangsverkehrs aus östlicher Richtung und
Dieser Trend wird anhalten. Die Statistiker prognostizieren bis 2040 einen Rückgang der Bevölkerung im Vogelsbergkreis um 23 Prozent.
Für den B49-Abschnitt durch Reiskirchen besteht schon eine Umgehung: die A5. Seit fast 20 Jahren kann mit der Abfahrt Grünberg die Strecke über Reiskirchen / Lindenstruth umfahren werden. Was auch zur Abnahme des Verkehrs geführt hat.
Im konkreten Fall von Reiskirchen und Lindenstruth gibt es klar erkennbare Gründe, warum die Wirkung einer Umgehungsstraße gering bleiben wird. Zum einen zeigen die gemessenen Verkehrszahlen, dass ungefähr ein Drittel der am westlichen Ortsrand von Reiskirchen fahrenden Autos in den dortigen Gewerbegebieten verbleibt, also die Wohnbereiche nicht belastet. Ein weiteres Drittel verliert sich in den Orten Reiskirchen und Lindenstruth, würde also auch weiter auf der alten Trasse fahren. Besonders prägnant ist dabei die Firma WeissTechnik in Lindenstruth, die mit 1000 Arbeitsplätzen fast 2000 Fahrbewegungen pro Tag produziert. Da die Umgehungsstraße auf der anderen Seite des Ortes verlaufen soll, verbleiben auch diese Fahrbewegungen auf den Straßen im Ort. Ähnliches gilt für die Bersröder Straße in Reiskirchen, zumal auch dort der Verkehr durch weitere Gewerbeansiedlungen noch steigen soll. Insgesamt sind die Verkehrsprobleme also überwiegend hausgemacht und lassen sich durch eine neue B49 nicht lösen.
Die B49 ist beschlossen und genehmigt. Doch ein Pflicht zum Bauen gibt es nicht. Beispiel: In der Nachbargemeinde Buseck wurde in den 80er Jahren nach langen Debatten der Bau einer Ortsumgehung (nahe Rödgen) beschlossen, geplant und genehmigt. Auch dieser Planfeststellungsbeschluss war baureif, aber gebaut wurde die Umgehung bis heute nicht, weil das politisch so beschlossen wurde. Gleiches wäre auch in Reiskirchen möglich.
Die Kreistagsfraktion der Gießener Linken hat einen entsprechenden Antrag für die Kreistagssitzung im Oktober 2024 eingereicht.
Infomaterial verkehr_b49_faltplan