Griechenland: Die Politik des Staatsstreichs
Mit einer beispiellosen Machtdemonstration hat Berlin die Regierung Griechenlands gedemütigt, an den Rand des Zusammenbruchs getrieben und Athen seiner Souveränität in zentralen Bereichen staatlichen Handelns beraubt. Dies ist das Resultat des Eurogruppen-Gipfels, der am heutigen Montag zu Ende gegangen ist. Wie aus Brüssel berichtet wird, erhält Griechenland nicht den benötigten Schuldenschnitt, sondern muss mit einem neuen “Hilfsprogramm” aus Brüssel vorlieb nehmen. Um es zu erhalten, muss Athen in Zukunft wichtige politische Entscheidungen zunächst Vertretern von EU, EZB und IWF vorlegen, bevor es das eigene Parlament überhaupt mit ihnen befasst. Griechenland wird damit de facto zu einer Art Protektorat nicht demokratisch gewählter Finanzinstitutionen. Griechenlands Parlament soll nun zentralen Forderungen ultimativ binnen zweier Tage zustimmen; andernfalls droht dem Land der vollständige Kollaps. Die Beschlüsse der Eurogruppe entsprechen weitestgehend deutschen Vorstellungen. Forderungen insbesondere aus Frankreich, die eine Erleichterung für Athen bedeutet hätten, wurden sämtlich von Berlin kalt abgeschmettert. In der griechischen Hauptstadt werden inzwischen Neuwahlen in Aussicht gestellt. Man könne den deutschen Zumutungen nicht zustimmen, erklärt Arbeitsminister Panos Skourletis. Bereits gestern Abend hatten prominente US-Ökonomen den deutschen Kurs aufs Schärfste verurteilt und festgestellt, Berlin ziele faktisch auf einen Staatsstreich in Athen.
Nicht mehr souverän
Am heutigen Montag haben die Staats- und Regierungschefs der Eurogruppe die griechische Bitte um einen dringend benötigten Schuldenschnitt abgewiesen und sich stattdessen auf ein neues “Hilfspaket” für Griechenland geeinigt. Dieses sieht die Zahlung von bis zu 86 Milliarden Euro an Athen vor, das also weiterhin Kredite insbesondere deutscher und französischer Banken bedienen kann. Dafür muss Griechenland umfassende finanz- und wirtschaftspolitische Eingriffe vollziehen, die im Detail zur Stunde noch nicht zuverlässig bekannt sind. Athen muss zudem Vermögenswerte in Höhe von 50 Milliarden Euro in einen Fonds übertragen, der sie vor allem zur Schuldentilgung veräußern wird; geplant war, ihn ebenfalls auswärtiger Kontrolle zu unterstellen. Die Regierung wird wichtige Beschlüsse dem Parlament überhaupt nur noch zur Entscheidung vorlegen können, nachdem sie von EU, EZB und IWF genehmigt worden sind; de facto verliert Griechenland damit seine Souveränität. In einer ersten Reaktion auf die diktatorialen Eingriffe Berlins äußerte der griechische Arbeitsminister Panos Skourletis, für die Beschlüsse gebe es in Athen keine Regierungsmehrheit; es müssten noch für dieses Jahr neue Parlamentswahlen anberaumt werden. Damit steht die Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras vor dem von Berlin offenkundig angestrebten Sturz.
Chronologie eines angekündigten Todes
Der diktatoriale Durchmarsch Berlins beim gestrigen Eurogruppen-Gipfel folgte einer in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen deutschen Machtdemonstration nicht nur gegenüber Griechenland, sondern auch gegenüber anderen EU-Verbündeten, vor allem gegenüber Frankreich, die seit Freitag Vormittag immer offener exekutiert wurde. Sie zeigt, mit welch brutaler Gewalt die Bundesrepublik ihre politischen Ziele der EU mittlerweile oktroyiert – Schritt für Schritt. german-foreign-policy.com rekapituliert die Vorgänge, die den Zustand der EU in einzigartiger Weise offengelegt haben.
Griechenlands Kapitulation
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag hatte die griechische Regierung gegenüber den deutschen Austeritätsdiktaten eigentlich bereits kapituliert: Sie hatte ein unerwartet hartes Kürzungsprogramm vorgelegt, das in weiten Zügen den Forderungen entsprach, die EU, EZB und IWF Ende Juni ihrerseits präsentiert hatten; damit hatte sie zugleich dem “Nein” der eigenen Bevölkerung aus dem Referendum vom 5. Juli Hohn gesprochen. Einmütig hieß es daher am Freitag Vormittag in der EU-Kommission, bei der EZB und beim IWF, auf dieser Basis könne man Gespräche mit Athen über ein drittes sogenanntes Hilfspaket beginnen. Frankreichs Staatspräsident François Hollande, Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi sowie weitere höchstrangige EU-Politiker schlossen sich an. Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem gab sich gewiss, die Euro-Finanzminister könnten bereits am Samstag eine “große Entscheidung” treffen und neue Verhandlungen mit Griechenland über ein drittes “Hilfspaket” aufnehmen; mit der griechischen Kapitulation schien die von Berlin geforderte Revanche für das “Nein” beim Referendum in ausreichendem Maße geleistet und also der Weg zu neuen Gesprächen geebnet zu sein.[1]
Deutschlands Frontalangriff
Die Bundesregierung belehrte Brüssel jedoch eines anderen und startete einen Frontalangriff auf die griechische Regierung. Man könne die Vorschläge noch nicht bewerten, erklärte ein Berliner Regierungssprecher am Freitag Mittag und rief damit ungläubiges Erstaunen in mehreren europäischen Hauptstädten hervor. Gleichzeitig verlangte ein Sprecher des deutschen Finanzministeriums: “Gut wären erste Schritte in Richtung Gesetzgebung.”[2] Bereits zuvor hatte der ohnehin für seinen rüden Umgangston berüchtigte [3] Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble seinen griechischen Amtskollegen Euklid Tsakalotos abfällig angeherrscht: “Geht doch in euer Parlament und: ‘Just do it.’ Das würde wahnsinnig viel Vertrauen schaffen.”[4] Während Schäuble chauvinistische “Scherze” über Athen verbreitete [5], sprachen sich prominente Politiker aus CDU und CSU grundsätzlich gegen ein neues “Hilfspaket” für Griechenland aus. Zudem orchestrierte Berlin seine Offensive gegen die Regierung Tsipras mit zustimmenden Äußerungen aus mehreren abhängigen Staaten vor allem Osteuropas. Die lettische Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma etwa kündigte an, das lettische Parlament werde einem neuen “Hilfspaket” wohl nicht zustimmen – schließlich habe Lettland selbst harte Sparprogramme realisieren müssen.[6] Tatsächlich liegen die Durchschnittslöhne in Lettland heute bei 700 Euro, die Renten bei 300 Euro im Monat. Die Armutskonkurrenz zwischen den östlichen und den südlichen EU-Staaten, die die Regierungen der baltischen Länder mittlerweile mutwillig forcieren, resultiert aus den deutschen Spardiktaten.
Grexit für fünf Jahre
Anschließend leitete Berlin den nächsten Schritt zur Unterwerfung Griechenlands ein. In der Nacht von Freitag auf Samstag hatte der deutsche Druck die Fraktion der Regierungspartei Syriza bereits zersprengt: 17 Abgeordnete der Partei, darunter zwei Minister und die Parlamentspräsidentin, verweigerten dem Sparprogramm in Übereinstimmung mit dem “Nein” aus dem Referendum die Zustimmung, woraufhin der Athener Wirtschaftsminister eine Regierungsumbildung ankündigte und die unbotmäßigen Parlamentarier zum Rücktritt aufforderte. Am Samstag ließ die Bundesregierung dann die in anderen EU-Hauptstädten bereits sicher geglaubte Einigung der EU-Finanzminister auf neue Verhandlungen mit Griechenland platzen. Zugleich wurde ein Papier des Bundesfinanzministeriums bekannt, das eine weitere Entmachtung der griechischen Restregierung verlangte: Sachwerte in Höhe von 50 Milliarden Euro sollten zur Schuldentilgung an einen auswärtigen (!) Fonds übertragen und administrative Tätigkeiten “entpolitisiert” werden; an die faktische Drohung mit einem Technokratenregime schloss sich die Forderung nach automatischen Haushaltskürzungen beim Verfehlen von Sparzielen an. Die Maßnahmen liefen auf ein Ende der griechischen Souveränität in zentralen Bereichen staatlicher Politik hinaus. Zum endgültigen Eklat führte jedoch das deutsche Verlangen, Griechenland müsse, wenn es nicht bereit sei, den Berliner Zumutungen Folge zu leisten, für “mindestens fünf Jahre” aus der Eurozone entfernt werden.[7]
Gespenster der Vergangenheit
Die Berliner “Grexit”-Forderung ist sofort auf entschlossensten Widerstand gestoßen, nicht zuletzt, weil – wie der ehemalige griechische Finanzminister Gianis Varoufakis am Wochenende in einem Beitrag in der britischen Tageszeitung The Guardian äußerte – die Bundesregierung einen “Grexit” offenbar schon seit längerer Zeit erwägt, um an Griechenland ein Exempel zu statuieren und auf diese Weise Frankreich zur definitiven Akzeptanz seiner Austeritätspolitik zu zwingen.[8] Paris hat sich Berlins Spardiktaten von Beginn an immer wieder widersetzt, sich allerdings nie gegen die deutsche Übermacht durchsetzen können (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Frankreichs Präsident Hollande kündigte am Samstag an, “alles dafür tun” zu wollen, um “Griechenland den Verbleib in der Euro-Zone” zu sichern. Der italienische Ministerpräsident Renzi ließ sich mit der Warnung zitieren: “Zu Deutschland sage ich: Genug ist genug. Einen europäischen Partner zu demütigen, obwohl Griechenland fast alles aufgegeben hat, ist unvorstellbar.” Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte: “Wenn Deutschland es auf einen Grexit anlegt, provoziert es einen tiefgreifenden Konflikt mit Frankreich. Das wäre eine Katastrophe für Europa.” Er fügte hinzu: “Es geht jetzt darum, nicht die Gespenster der Vergangenheit heraufzubeschwören”.[10] Die zahlreichen Warnungen wiegen umso schwerer, als das Papier aus dem Finanzministerium in der Bundesregierung abgesprochen gewesen ist. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat ausdrücklich erklärt, in die Absprachen einbezogen gewesen zu sein.
De-facto-Protektorat
Ungeachtet sämtlicher Warnungen hat die Bundesregierung am Sonntag ihren Frontalangriff auf Griechenland weitergeführt. Die Beschlussvorlage, die am gestrigen Abend der Debatte der Euro-Staats- und Regierungschefs zugrunde lag, trug eine deutsche Handschrift. Sie forderte von Athen ungewöhnlich weitreichende Maßnahmen, darunter finanz- und wirtschaftspolitische Eingriffe inklusive Privatisierungen im Wert von zweistelligen Milliardenbeträgen, den Umbau des Justizsystems sowie ein von der EU-Kommission kontrolliertes Programm mit dem Ziel, die Neustrukturierung und “Entpolitisierung” der griechischen Verwaltung in die Wege zu leiten. Erste Schritte müssten bis zum 15. Juli vollzogen sein – also binnen zwei Tagen -, weitere seien bis zum 20. Juli – also in einer Woche – durchzuführen. Zudem müsse sich die Regierung über “alle Gesetzesentwürfe auf relevanten Gebieten” mit der Troika einigen, bevor sie sie der Öffentlichkeit bekanntgebe oder sie dem Parlament vorlege. Der Übergang zu einer nichtdemokratischen Regierungsform, der sich bereits vor Jahren in von der EU installierten Technokratenkabinetten in Italien und Griechenland angekündigt hatte, wäre vollzogen. Ob das Papier in allen Details verabschiedet wurde, ist zur Stunde noch unklar.
Die totale Demütigung
Entsetzt haben sich schon am gestrigen Abend mehrere US-Wirtschaftswissenschaftler geäußert. Der Ökonom Jeffrey Sachs etwa, dessen Schocktherapie für katastrophale wirtschaftliche Zusammenbrüche im Osteuropa der 1990er Jahre verantwortlich gemacht wird, nannte die Eurozone ein “Tollhaus” und urteilte: “Die deutsche Führung ist grausam.”[11] Nobelpreisträger Paul Krugman hielt in einem Kommentar fest: “Eine substanzielle Kapitulation reicht Deutschland nicht aus, weil es einen Regime Change und die totale Demütigung Griechenlands will.”[12] Das Hashtag “ThisIsACoup” treffe vollkommen zu, fügte Krugman später hinzu. Selbst wenn es nicht zum Zusammenbruch der Regierung in Athen oder zu ihrer Komplettunterstellung unter EU, EZB und IWF kommen solle: “Wer will jemals wieder Deutschlands Absichten trauen? … Das europäische Projekt … hat einen schrecklichen, vielleicht tödlichen Schlag erhalten. Und was immer man von Syriza oder Griechenland hält – es waren nicht die Griechen, die das getan haben.”[13]
Mehr zum Thema: Von Irrläufern, Zockern und Bürschchen, Die strategische Flanke, Austerität um jeden Preis, Zum Teufel gejagt, Das Referendum als Chance, Die erste Niederlage, Countdown für Athen, Austerität oder Demokratie und Austerität oder Demokratie (II).
[1], [2] Katrin Schulze: Athen diskutiert in der Nacht über Sparprogramm. www.tagesspiegel.de 10.07.2015.
[3] S. dazu Von Irrläufern, Zockern und Bürschchen.
[4] Just do it. Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.07.2015.
[5] Schäuble wird mit der Aussage zitiert: “Ich habe dieser Tage meinem Freund Jack Lew” (dem US-Finanzminister) “angeboten, dass wir Puerto Rico in die Eurozone übernehmen könnten, wenn die USA Griechenland in die Dollar-Zone übernehmen würden.” Katrin Schulze: Athen diskutiert in der Nacht über Sparprogramm. www.tagesspiegel.de 10.07.2015.
[6] Katrin Schulze: Athen diskutiert in der Nacht über Sparprogramm. www.tagesspiegel.de 10.07.2015.
[7] Comments on the latest Greek proposals. Berlin, 10 July 2015.
[8] Yanis Varoufakis: Germany won’t spare Greek pain – it has an interest in breaking us. www.theguardian.com 10.07.2015.
[9] S. dazu Ein Tabubruch, Die Frage der Führung und Die Macht in Europa.
[10], [11] Daniel Brössler, Alexander Mühlauer, Thomas Kirchner, Jakob Schulz: Neues Krisengespräch mit Tsipras. www.sueddeutsche.de 13.07.2015.
[12] Paul Krugman: Disaster In Europe. krugman.blogs.nytimes.com 12.07.2015.
[13] Paul Krugman: Killing the European Project. krugman.blogs.nytimes.com 12.07.2015.
german-foreign-policy.com, 13.07.15