Grünen-Spitze entsorgt weitere friedenspolitische Positionen: Olivgrüne Aufrüstung
Aufgrund hoher Umfragewerte gelten Bündnis 90/Die Grünen als Regierungspartei in spe. In welcher bundespolitischen Konstellation auch immer: An ihnen kommt niemand mehr vorbei. Prospektiv stellt sich die Grünen-Spitze darauf ein, so auch außen- und militätpolitisch.
Robert Habeck plädierte nach einem Gespräch mit dem ukraninischen Präsident Wolodimir Selenskij im Deutschlandfunk: »Waffen zur Verteidigung, zur Selbstverteidigung, kann man meiner Ansicht nach, Defensivwaffen, der Ukraine schwer verwehren.« (26.5.2021)
Einst gehörte zum Markenkern der Partei ein konsequenter Pazifismus, wie ihn beispielsweise Petra Kelly und Gerd Bastian vehement vertraten, aber auch Forderungen nach einer Entmilitarisierung der Politik, der Auflösung der Militärblöcke in Westen und Osten sowie dem Abbau von Feindbildern. Aktuell entsorgen die Vorsitzenden Habeck und Baerbock auf dem Weg an die Schalthebel der Macht die letzten Reste dieses pazifistischen Erbes.
Zwar heißt es im aktuellen Wahlprogramm der Grünen: »Wir machen uns stark für zivile Krisenprävention und wollen mit einer restriktiven Ausfuhrkontrolle europäische Rüstungsexporte in Kriegs- und Krisengebiete sowie an Autokraten beenden.« Das ist bereits schwammig formuliert. Doch Habeck geht mit Blick auf die Ukraine noch darüber hinaus – ein Land, dessen Osten ein stetig schwelender Krisenherd und damit ohne Zweifel ein Kriegs- und Krisengebiet ist. Der Co-Vorsitzende der Grünen geht damit die Gefahr ein, den militärischen Konflikt und eine sich verschärfende Konfrontation mit Russland anzuheizen.
Es folgt der Linie des Zentrums liberale Moderne (LibMod), Denkfabrik einst einflussreicher Grünen-Politiker, die EU solle die »militärische und rüstungsindustrielle Kooperation« mit den Staaten ihrer »Östlichen Partnerschaft« – Georgien, Moldawien, Ukraine – intensivieren, indem sie Mittel zur Beschaffung von Rüstungsgerät aus europäischer Produktion bereitstelle und Waffenschmieden in der Ukraine unterstützt. Demgegenüber lehnt die schwarz-rote Bundesregierung nach wie vor Waffenexporte in die Ukraine ab, um die Konflikte nicht weiter anzuheizen.[1]
Seinen politischen Schwenk begründete Habeck im Deutschlandfunk mit dem Hinweis: »Die Ukraine fühlt sich sicherheitspolitisch allein gelassen und sie ist allein gelassen«. Ist das nun politische Naivität, oder steckt mehr dahinter? Es dürfte ihm doch nicht entgangen sein, dass die USA der Ukraine seit Beginn der Kämpfe in der Ost-Ukraine militärische Ausrüstung und Waffensysteme geliefert haben. Weiteres Kriegsgerät im Wert von 125 Millionen US-Dollar inklusive zweier Patrouillenboote sagte das Pentagon Anfang März zu.
Waffensysteme haben laut Angaben des Stockholmer Forschungsinstituts SIPRI auch Polen, Großbritannien sowie Frankreich geliefert. Darüber hinaus beteiligte sich Tschechien im Jahr 2018 mit 50 gebrauchten Schützenpanzern BMP-1 sowie 40 gebrauchten Selbstfahrlafetten an der Aufrüstung des Landes. Die Türkei lieferte dem ukrainischen Militär sechs Kampfdrohnen, der Kauf von weiteren 48 Exemplaren ist vereinbart. Dass es um mehr als um die Selbstverteidigung eines klar unterlegenen Staates geht, räumt Habeck dadurch ein, dass er die geforderte Lieferung von Kriegsgerät als Teil des westlichen Machtkampfs gegen Russland ausweist: »Die Ukraine verteidigt auch die Sicherheit Europas.«
Nach der ersten auch innerparteilichen Aufregung nannte Habeck in einem weiteren Interview mit dem Deutschlandfunk »Nachtsichtgeräte, Aufklärungsgeräte, Kampfmittelbeseitigung, Medevacs (medizinische Transportflugzeuge)« als Beispiele für seine Forderung (27.5.2021). Doch die Betonung, er habe »nur« Defensivwaffen gemeint, ist irreführend: Die deutsche Rüstungskontrolle unterscheidet nicht zwischen Offensiv- und Defensivwaffen.
Prompt formulierte Präsident Selenskyj in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung konkrete Wünsche für Lieferungen aus Deutschland: Die Ukraine benötige Raketen-Schnellboote, Patrouillenboote, Sturmgewehre, Funkausrüstung und gepanzerte Militärfahrzeuge. Und fügte hinzu: »Habeck hat das verstanden«. Bereits Mitte April behauptete der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, in einem Deutschlandfunk-Interview (15.4.2021), »der Kreml« trachte danach, »die Ukraine als Staat und Volk auszulöschen«; deshalb erwarte Kiew nicht nur »Solidaritätsbekundungen«, sondern »modernste Waffensysteme« aus Deutschland. Und er fügte eine geradezu abenteuerliche Drohung hinzu: Wenn nicht, sei die Ukraine gezwungen, »über einen nuklearen Status … nachzudenken«.
Selbst einen NATO-Beitritt der Ukraine schließt der Grünen-Co-Vorsitzende im Deutschlanfunk nicht mehr aus: Lediglich »im Moment« könne man »das nicht machen«; da müsse die Ukraine geduldig sein. »Die Idee, Kiew in die NATO aufzunehmen, ist so klug wie ein Streichholz in ein Benzinlager zu werfen, um zu schauen was wohl passiert«, schreibt Stefan Reinecke in der taz. Doch auch diese Position kommt nicht überraschend, denn die Grünen von heute sind Transatlantiker mit klarer Westbindung: Die Partei fordert eine enge Kooperation mit der Biden-Administration und Habeck verlangt von der Partei DIE LINKE ein Bekenntnis zur NATO-Mitgliedschaft als Vorbedingung für künftige Koalitionsgespräche.[2]
Auch einige Interviews mit der grünen »Kanzlerkandidatin« Annalena Baerbock offenbaren in der Außen- und Militärpolitik eine Übereinstimmung mit der Praxis der politischen und militärischen Elite in Deutschland. Mit Blick auf eine schwarz-grüne Koalition plädiert sie für eine Fortsetzung der Aufrüstung und zieht Kriege ohne UN-Mandat in Betracht. Sollte der UN-Sicherheitsrat »blockiert« sein, müsse man gegebenenfalls einer »internationalen Schutzverantwortung« entsprechen; »mit dem Begriff wurden in der Vergangenheit Kriege ohne oder unter Bruch eines UN-Mandats legitimiert – etwa der Krieg in Libyen« (GFP 1.12.2020). Die Abschaffung des Vetorechts im Weltsicherheitsrat und die Befürwortung globaler Interventionen zur »Verteidigung der Menschenrechte« würde die »politische Einsatzschwelle von Streitkräften bei internationalen Einsätzen« deutlich absenken.
Doch inzwischen machen Teile der ehemaligen Friedenspartei selbst vor einem Plädoyer für die »nukleare Teilhabe« Deutschlands nicht halt, wie eine Initiative der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung Anfang des Jahres zeigte. Mit weiteren 18 Transatlantikern hatte die Chefin der Stiftung, Ellen Ueberschär, gegenüber dem neuen US-Präsidenten für die »nukleare Teilhabe« geworben. In dem Papier »Transatlantisch? Traut Euch! Für eine Neue Übereinkunft zwischen Deutschland und Amerika« wird postuliert, der »nukleare Schutzschirm der USA ist für alle nicht nuklearen NATO-Staaten in Europa unverzichtbar«, und zwar »solange es Nuklearwaffen gibt«.
Da Deutschland, die USA, die gesamte NATO sowie die anderen Nuklearwaffenstaaten sich beharrlich weigern, den am 22. Januar 2021 in Kraft getretenen Vertrag zum Verbot der Atomwaffen[3] zu unterzeichnen, sind die Atomwaffen auf Dauer gestellt. Das Festhalten an der »nuklearen Teilhabe« bedeutet: US-Atomwaffen sollen weiterhin und unbefristet im rheinland-pfälzischen Büchel lagern, und für die Bundeswehr sollen neue atomwaffentaugliche Kampfflugzeuge beschafft werden.
Dagegen enthält das Grundsatzprogramm von Bündnis 90/Die Grünen zur Atomwaffenfrage die Forderung nach »Beitritt Deutschlands zum UN- Atomwaffenverbotsvertrag und […] Stärkung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags« sowie die Bemerkungen: »Dafür muss gemeinsam mit den internationalen und europäischen Partnern am Ziel eines atomwaffenfreien Europas gearbeitet werden. Dazu braucht es ein Deutschland frei von Atomwaffen und damit ein zügiges Ende der nuklearen Teilhabe.« Beobachtern ist jedoch gleich aufgefallen, dass diese Formulierungen recht uneindeutig sind, um möglicherweise in künftigen Koalitionsverhandlungen wahlweise sowohl der CDU als auch der SPD entgegenkommen zu können. In der Tat – »zügig« bedeutet nicht »unverzüglich«.
Aktuell stehen die Zeichen im Ost-West-Verhältnis auf Eskalation. Russland erhöhte im April seine Militärpräsenz an der Grenze zur Ostukraine, und bis zum 14. Juni findet noch das NATO-Manöver »Defender 21« statt. Beteiligt sind 28.000 Soldaten aus 26 Nationen – darunter auch ukrainische Truppen. Bei diesem größten NATO-Manöver seit dem Ende des Kalten Krieges testet die US-Armee ihre Fähigkeit, Truppen in größerem Maßstab nach Osten zu verlegen, an die Grenze zu Russland. Nicht nur, aber besonders in dieser Phase eignet sich Außenpolitik nicht für olivgrüne Aufrüstungsübungen in Vorbereitung auf eine neue Regierungskoalition.
Anmerkungen
[1] Gustav C. Gressel: The Eastern Partnership’s missing security dimension. LibMod Policy Paper. Berlin, June 2020.
[2] 1995 stimmte noch ein Parteitag der Grünen für den Austritt aus der NATO. Es war die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright, die den »grünen« Außenminister Joschka Fischer im Herbst 1998 ermahnte, seine Partei möge vom kritischen Verhältnis zur westlichen Allianz abrücken. Fischer entsandte gemeinsam mit Kanzler Gerhard Schröder und Verteidigungsminister Rudolf Scharping (beide SPD) sowie ungehindert von seiner Partei erstmals seit 1945 deutsches Militär in einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien.
[3] Siehe auch Otto König/Richard Detje: UN-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen tritt in Kraft. Neues Kapitel für die nukleare Abrüstung, Sozialimus.de Aktuell, 11.11.2020.
sozialismus, Otto König/ Richard Detje, 9.6.21