Hans Freiherr von Liebig – Ideengeber zu Hitlers “Mein Kampf”
Genau vor 100 Jahren, erschien das Buch “Der Betrug am deutschen Volke”, das die politische Rechte im ganzen Reich maßgeblich beeinflußte. Sein Autor war Hans Freiherr von Liebig (1874-1931), ein Enkel Justus von Liebigs, der in Gießen 1908-1921 als Chemie-Professor wirkte, hier auch Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes war und vor allem als antisemitischer Autor von Büchern und Flugschriften in Massenauflagen hervortrat, in denen er die entstehende Weimarer Republik scharfzüngig bekämpfte. In den “Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus” vom 15.1.1919 wird er als geplant gewesener Kandidat der Alldeutschen zur Wahl der Nationalversammlung angeführt. Damals fungierte er als Redakteur der Propaganda-Zeitschrift “Deutschlands Erneuerung” in München. 1920 finden wir ihn bei den “Deutsch-Völkischen”. Er ist in der wissenschaftlichen Literatur belegt, aber z.B. in Gießen bisher nicht wahrgenommen worden, wie ich in der Diskussion nach einem kürzlich gehaltenen Vortrag von Prof. Eckart Conze (Marburg) über den “Versailler Vertrag” feststellen konnte.
Liebig, “dessen Schriften Hitler schätzte”, wird in Wikipedia dadurch charakterisiert, dass er alle Übel “allein auf die Abhängigkeit von Juden zurückzuführen” pflegte. Vor allem war ein “wichtiger Impulsgeber” für Hitlers “Mein Kampf”. Sein oben genanntes Buch wurde in der NSDAP schon Anfang der 20er zur Lektüre empfohlen. Der Professor beruft sich in seinem Pamphlet sogar auf Gottfried Feders “Zinsknechtschaft” (NS-Ökonom) sowie auf Hitlers Mentor Dietrich Eckart mit seiner “vortrefflichen Wochenschrift ´Auf gut Deutsch`” (real ein antisemitisches Kampfblatt). Auch die heimische – bekanntermaßen antijüdische und antikommunistische – Bauernschaft bezieht er in seine Argumentation mit ein: “Die Bauern in Oberhessen sagen schon heute allgemein, die Sozialdemokraten hätten den Krieg hervorgerufen, um den Kaiser zu stürzen.” Dies war auch damals eine kühne Verdrehung der Tatsachen.
Viele ideologische Schwerpunkte Hitlers finden sich schon bei dem Gießener Schriftsteller. Strukturiert wird dies von ihm durch ein gesamtgesellschaftliches Phantasiesubjekt “Alljudaan”, das durch hintergründige Einflußnahmen an allen möglichen Verbindungen von feindlichen Personen, Gruppen, Parteien und auch gegnerischen Völkern festgemacht wird. Er aktiviert dazu die verschiedensten Begriffskombinationen wie z.B. die “deutsche Provinz Alljudaan” und “das internationale Reich Alljudaans”, dessen “Geschäftsträger” die Entente sei. Die “Schutztruppen Alljudaans” wollten “alles Chauvinistische ausrotten.” Deutschland befinde sich “in der Hand Alljudaans.” “Die Kampfesweise Alljudaans” sei “die des Börsensaales und seiner Kniffe”. Erzberger könne “als Vertreter Alljudaans” leicht zu einer “Einigung über die gemeinsame wirtschaftliche Beherrschung Deutschlands gelangen.” Die Revolution von 1918 wird auf “die jahrelangen Demokratisierungs-und Umsturzwühlereien Alljudaans” zurückgeführt. Der Gelehrte polemisiert wie Hitler dann 1920 gegen “Wucherer und Schieber” für “die Einziehung aller Kriegsgewinne.”
Die fabulösen Verschwörungstheorien sagen etwa, Deutschland befinde sich “in der Hand des Alljudentums” mit seinen schwarzen und roten Mitarbeitern. “Die tiefwurzelnde Feindschaft des Alljudentums” beherrsche die Regierungsparteien SPD, DDP und Zentrum “gegen das deutsche Volkstum”. Der “nur raffende” Reichtum befinde sich größtenteils in den Händen Alljudaans”. Konkreter Akteur in Politik und Wirtschaft sei das “wuchernde Kapital Alljudaans”. Hier werden mißverstandene Elemente der marxistischen Theorien in Antisemitismus umfunktioniert. Im Detail polemisiert Liebig gegen seine besonderen Feinde Bethmann-Hollweg, Erzberger, Scheidemann, Ebert, David u.a.als “Reichsverderber”. (Ministerpräsident Scheidemann war 5 Jahre lang Redakteur der SPD-Zeitung in Gießen gewesen, auch Dr. Eduard David kam von hier.) So kritisiert der Kriegsbefürworter die vergeblichen Friedensbemühungen Scheidemanns in Stockholm, Bern, Kopenhagen, Amsterdam und im Haag. Dieser kontert 1919 im “Vorwärts”, “die Alldeutschen hätten das Volk in den Krieg gerieben.”
Die Nazi-Grundvokabeln Blut, Rasse, Feind und Jude sind von Liebig bereits 1919 in den vielfältigsten Varianten eingeführt.Die zum Herrschen befähigte Führungsschicht benötige “gutes Blut”, sei jetzt aber “meistens durch unedleres Blut gekennzeichnet.” Nachdem “zwei Millionen unserer Besten” gefallen seien, hätten diejenigen “das Heft in der Hand, welche das noch vorhandene edle Blut dem schleichenden Siechtum aussetzen wollen” oder “Dem deutschen Blut … gilt der Vernichtungskampf in Wahrheit”, “das gute germanische Blut” werde “mehr und mehr ausgerottet.” Nach Liebig sollte die Blutsverwandtschaft” “eine Reihe kleinerer germanischer Staaten .. an unsere Seite treiben.”
Das edle Blut bekommt seine Funktion erst durch seine Zugehörigkeit zur richtigen, nämlich der “teutonischen” bzw. der “germanischen Rasse” mit dem “germanischen Herrenmenschen mit dem Pflichtgefühl der germanischen großen Herrennaturen”, die der jüdischen Rasse kontrastiert werden. Germanische Herrscher erhalten den Staat, die Juden “zersetzen; der Germane baut.” Die Juden würden bei Vermischung die Rasse “verschlechtern” auf Kosten der “Wirtsvölker.” Die jüdische Rasse eigne sich besonders beim “Verteilen.” Mit den andersrassigen Köpfen bezeichnet Liebig hauptsächlich die Juden, die nicht kreativ seien, sondern sich durch “journalistische Leistungen, Nachschöpfungen, Nachempfindungen und Ausbeutung” anderer Rassen auszeichneten. Der streitbare Beobachter identifiziert eine “alljüdische Presse” sowie die “alljüdischen Parteien” von Freisinn und Sozialdemokratie in der “alljüdischen Demokratie”. Der Jude habe die Fähigkeit, Massen durch “tönende Redensarten zu beeinflussen zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft.” Auch in diesem Punkt antizipiert er die Auffassung des Redners Hitler. Als Alldeutscher befürwortet er es, alle polnischen Juden abzuschieben und er begrüßt einen polnischen Vorschlag zur “planmäßigen Förderung der unaufhaltsamen Auswanderung der Juden nach Palästina” – “bis zur Judenreinheit.” Demgemäß bezeichnet der Judenhasser die Juden immer wieder als “Fremdvölkische”, “Fremdstämmige”, “Stammesfremde” oder auch “Orientale”.
Der Freiherr begrüßt Nietzsches “Lehre vom Übermenschen”, bedauert jedoch dessen Mangel an Patriotismus. Der Publizist kämpft hauptsächlich für die Machterweiterung Deutschlands bzw. für den “Anfang Großdeutschlands” und eines mitteleuropäischen Staatenbundes mit “einer Politik des Blutes und des Eisens.” Er lehnt die angebliche Strategie Bethmann-Hollwegs ab, “auf Machtpositionen zu verzichten.” Für ihn besteht nur noch die Alternative, “entweder Weltmachtvolk oder Helotenvolk zu werden.” Er will “die besetzten Gebiete von Kurland und Litauen als deutsche Gebiete erklären.” So weist Liebig auch für den Friedensvertrag von Brest-Litowsk den “Schwindel von der zu großen Härte” zurück. Leider habe “di große Hetze gegen die Annexionisten” einen “Boden im Volk” gefunden. “Militärisch aber war der Krieg nicht verloren” behauptet er im Sinne der Dolchstoßlegende und versucht immer wieder an verschiedensten Phasen des Kriegsverlaufs nachzuweisen, daß der Sieg mehrfach greifbar nahe gewesen sei, wenn man nur den alldeutschen Ratschlägen gefolgt wäre – bei Beginn des U-Bootkrieges etwa “wäre der Krieg spätestens 1917 von uns gewonnen worden.” Die Deutschen “hätten ein blühendes herrliches Weltvolk” werden können, “wenn nicht feindliche Mächte im Innern und Äußern seine nationale Gesinnung, seinen völkischen Geist vor und im Kriege unterhöhlt hätten”. Und ein Friede sei “immer nur auf Grund deutscher Siege möglich.”
Die nationalistische Schmähschrift von Liebigs war ein Vorbote der späteren Propaganda-Erfolge der Nationalsozialisten, z.B. von Hitler und Goebbels in Gießen, die 1931 und 1932 hier mehrfach in der überfüllten Volkshalle sprechen konnten.
Jörg-Peter Jatho
(auch erschienen am 15.1.20 im Gießener Anzeiger)