Hessen vor einer Großen Koalition: Renaissance der Realpolitik?
Die Hessische CDU mit ihrem neuen Anführer Boris Rhein hat überraschend beschlossen, mit der großen Verliererpartei SPD Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Er begründet den einstimmig gefassten Beschluss zur Ablösung des langjährigen grünen Koalitionspartners mit der Notwendigkeit einer »Renaissance der Realpolitik«.
Die Menschen würden bei aktuell drängenden Themen »konkrete Problemlösungen statt abstrakter Phantomdebatten« erwarten. In einer Zeit der »multiplen Krisen« sei eine Regierungskoalition aus der Mitte des Landes die beste Lösung, sagte Rhein und hob die kommunale Verankerung von CDU und SPD hervor. Die Entscheidung für die SPD sei allerdings keine gegen die Grünen, ausschlaggebend seien größere Schnittmengen zwischen Union und SPD in der Sicherheitspolitik und beim Thema Migration gewesen.
Doch bei den Leitlinien für die künftige Landesregierung als Folge der Ergebnisse der Landtagswahlen vom 8. Oktober (siehe zu deren Ergebnissen siehe den Beitrag von Peter Stahn und Bernhard Müller »Rechtsverschiebung auch in Hessen«), die er als »erste christlich-soziale Koalition in Hessen seit 70 Jahren« bezeichnete, klang die Abgrenzung gegen den bisherigen grünen Partner deutlich an. »Die Menschen wollen nicht bevormundet werden«, unterstrich Rhein und versprach eine »sanfte Erneuerung mit und nicht gegen die Menschen«. Vor allem sei deren Angst vor einer staatlichen Überforderung durch die zunehmende Migration gestiegen.
Der der am 31. 2022 als Nachfolger von Volker Bouffier gewählte und wohl auch künftige Ministerpräsident Hessens interpretiert das Ergebnis der letzten Landtagswahlen in diesem Bundesland vor dem Hintergrund einer großen Verunsicherung: Insbesondere die finanziellen Sorgen befinden sich auf einem Höchststand – ausgelöst durch steigende Lebenshaltungskosten, unbezahlbarem Wohnraum, Steuererhöhungen und sozialstaatlichen Leistungskürzungen.
Aus diesen Stimmungen entspringe eine um sich greifende Verunsicherung und in letzter Konsequenz ein Lackmustest für die Demokratie. Die Ängste vieler Wähler*innen seien nicht hinreichend gehört worden. Damit würden die multiplen Krisen – die bisher eher aus Debatten linker Kapitalismuskritik bekannte Terminologie ist inzwischen auch bei führenden Christdemokraten angekommen – zu Treibern der Verunsicherung und Vorboten einer drohenden Krise der Demokratie.
Allzu oft wären die Verheißungen der Politik in den vergangenen Jahren in der Wahrnehmung einer wachsenden Gruppe von Bürger*innen für die breite Mehrheit nicht erfüllt worden. In dieser Gemengelage sei es mehr denn je die Verantwortung der Union, Hessen, aber auch die gesamte Republik, die gesellschaftliche Mitte aus der krisenhaften Situation herauszuführen, mit einem »mutigen Bündnis, das Debatten in die Mitte holt, anstatt sie zu verdrängen. Eine Regierung, die das Land führt und keine schrillen Debatten.«
Der hessische CDU-Chef gibt in dieser Gemengelage einem Regierungsbündnis den Vorzug, das für Stabilität und sanfte Erneuerung, also eine »Modernisierung mit den Menschen und nicht gegen sie« steht. Auch wenn der »umfassende Veränderungswillen der Grünen« weiterhin einen Platz in der Parteienlandschaft habe, brauche es aber »in einer Zeit, die geprägt ist von so viel realer Veränderung von außen, […] im Innern ein Regierungsbündnis aus der Mitte, das ein neues Sicherheitsversprechen formuliert und eine Renaissance der Realpolitik organisiert.«
In die bevorstehenden Koalitionsverhandlungen mit den hessischen Sozialdemokraten, die von der Bundesinnenministerin Nancy Faeser geführt wird, gehe die CDU mit klaren Leitlinien: »Wir arbeiten für einen starken Staat, wir arbeiten für eine stabile Wirtschaft und wir arbeiten für eine sanfte Erneuerung.« Denn die Menschen im Land würden bei der Bewältigung der aktuell drängenden Themen – Begrenzung der Migration, Stärkung des Rechtsstaates und Abbau von Belastungen für Bürger*innen und Betriebe – konkrete Problemlösungen erwarten.
Dabei kann die CDU und ihr Ministerpräsident auf eine real existierende Sozialdemokratie setzen, die gegenwärtig ebenfalls Beschränkungen bei der Migration und Fluchtbewegung auf den Weg bringen will, für die Stärkung der Härte des strafenden Staates plädiert und deren Bundesverteidigungsminister (und nicht nur dieser) die Republik wieder kriegsfähig aufrüsten will. Diese Orientierungen treffen sich mit den Zielvorstellungen der Christdemokraten und sind Ausgangspunkt für die Verhandlung einer christlich-sozialen Hessenkoalition.
Ein solcher Koalitionswechsel trägt der verkündeten Zeitenwende weitaus besser Rechnung: für einen starken Staat, ein sicheres Land, eine stabile Wirtschaft und eine vermeintlich sozialere Gesellschaft. Bei einer Fortführung der Koalition mit den Grünen hätte die CDU erneut Gräben überwinden und Gegensätze überbrücken müssen. Jetzt aber – so deren Kalkül – ist Zeit für eine Versöhnung von Wirtschaftskraft und Ökologie, von Lohn für Leistung und Sozialleistung.
Exemplarisch wird diese »Entkrampfung« von Boris Rhein in Sachen Artenschutz, konsequenten Klimawandel und ökologischer Landwirtschaft angedeutet: In der nächsten hessischen Landesregierung werde es wieder ein eigenständiges Landwirtschaftsministerium geben. Das habe er den vielen Landwirten versprochen, mit denen er im Wahlkampf zusammengekommen sei. Und dieses Ministerium werde auch für Jagd und Forsten zuständig sein.
In den zehn schwarz-grün regierten Jahren waren diese Aufgaben von der grünen Umweltministerin Priska Hinz mitverwaltet worden. Sie hatte mit dem Vorrang für ökologische Vorgaben traditionell wirtschaftende Landwirte, Waldbesitzer und die Jägerschaft mehrfach gegen sich aufgebracht. Rhein versprach also eine Kurskorrektur.
In Wiesbaden soll mit der christlich-sozialen Koalition vieles einfacher, konfliktärmer und weniger ambitioniert werden. Ob das wirklich gelingt, bleibt abzuwarten. Für die Sozialdemokraten bedeutet dieser vermeintliche Lackmus-Test bestenfalls ein Zeitgewinn, aber keineswegs eine Weiterentwicklung ihrer politisch-programmatischen Defizite.
Im Bundesland Hessen wird die SPD einige Ministerien besetzen können, und ihre dortige Landesvorsitzende Nancy Faeser bleibt auch weiterhin Bundesinnenministerin. Aber eine Lösung des Migrationsproblems wird sie nicht voranbringen, auch wenn Faeser demnächst den hessischen Landesvorsitz abgibt. Für die nächsten Landtagswahlen in Ostdeutschland entspringt aus diesem Lackmustest weder ein Erkenntnisgewinn noch ein Fortschritt in der politischen Gestaltung.
aus: sozialismus, 12. Nov. 2023