In der Lohnarbeitsmühle
Erneut ist die Zahl der Erwerbstätigen gestiegen: auf 44,3 Millionen im 1. Quartal 2018, ein Plus von 609.000 gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum. Damit ist ein neuer Rekordwert in der Beschäftigtenstatistik erreicht. Doch ist alles Gold, was glänzt?
Zum Rekordwert in der Beschäftigtenstatistik trägt das produzierende Gewerbe mit 107.000 und die öffentlichen Dienstleistungsbereiche inklusive Gesundheit und Erziehung mit 210.000 zusätzlichen Jobs bei. Entsprechend rechnet die Bundesregierung damit, dass die offiziell ausgewiesene Zahl der Arbeitslosen im laufenden Jahr von 5,7% auf 5,2% sinkt. Da wähnen sich manche in Feierlaune.
Doch gerade auf dem Arbeitsmarkt ist nicht alles Gold, was glänzt. Fast die Hälfte der Neueinstellungen ist befristet – ein Thema, über das gerade aktuell im Zusammenhang mit den Praktiken bei der Deutschen Post öffentlich diskutiert wird. Der vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) vorgelegte »Atlas der Arbeit« zeichnet ein Bild der Arbeitswelt, das alles andere als rosig ist.
Lohnsklaven der Weltwirtschaft
Schauen wir kurz über den nationalen Tellerrand: Mindestens 1,4 Milliarden Menschen arbeiten weltweit in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Während in Entwicklungsländern bis zu 80% der Erwerbsbevölkerung unter miserablen Bedingungen beispielsweise als Tagelöhner*innen malochen, arbeiten in den Industrienationen im Schnitt zehn Prozent der Bevölkerung in prekären Verhältnissen. Beispiel Textilindustrie: Der Monatslohn einer Näherin beträgt in Bangladesch umgerechnet 50 Euro. »Wenn eine Textilarbeiterin dort das Gleiche wie ihre deutsche Kollegin verdienen würde, wäre der Lohnanteil am Preis eines T-Shirts nicht 18 Cent, sondern 5,40 Euro«, heißt es in der Studie.
In Deutschland sind 75% der erwerbsfähigen Bevölkerung derzeit in einem Arbeitsverhältnis. Von den gut 44 Millionen Beschäftigten gehen 31,5 Millionen einer sozialversicherungspflichtigen Lohnarbeit nach. Auffällig ist, dass sich die atypischen Beschäftigungsverhältnisse – Mini-Jobs, befristete Stellen, Leiharbeit, Solo-Selbständigkeit – in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt haben. Diese Jobs sind schlechter bezahlt und führen zu schlechterer sozialer Absicherung im Alter sowie bei Arbeitslosigkeit. Fast jede/r vierte abhängig Beschäftigte verdiente 2015 weniger als 10,22 Euro und lag damit unter der Niedriglohnschwelle.
Besonders gravierend sind die Befunde der Studie zur Sklaverei. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) waren 2016 schätzungsweise 40 Millionen Menschen Opfer von Sklaverei. Hauptsächlich Frauen und Kinder werden auch heute noch gewaltsam festgehalten und zumeist im Bergbau, der Landwirtschaft und dem Dienstleistungssektor zur Sklavenarbeit gezwungen. Besonders in Indien ist moderne Sklaverei weit verbreitet: Jedes Jahr verschwinden dort Hunderttausende Kinder – trotz weltweiten Sklavereiverbots.
Deutschland: ein Regime der Unsicherheit
Einst galt die Bundesrepublik als ein Land, das sich in der Mitte zwischen den skandinavischen Nachbarn im Norden und den nur schwach entwickelten Sozialstaaten im Süden Europas einer vergleichsweise egalitären Lohnstruktur und solidarischen Lohnpolitik mit der IG Metall als »heimlicher gesamtwirtschaftlicher Einheitsgewerkschaft (Wolfgang Streeck) rühmen konnte. Das galt bis hinein in die 1990er Jahre – was mittlerweise aber bereits ein Vierteljahrhundert her ist. Heute sind die Verhältnisse ganz andere.
Teilzeit: Die Zahl der Teilzeitstellen – 8,5 Millionen im Jahr 2016 – hat sich verdoppelt. Viermal mehr Frauen als Männer arbeiten in Teilzeit, insgesamt 48% der erwerbstätigen Frauen. Für viele bedeutet die Geburt des ersten Kindes den Beginn einer Erwerbsbiografie in Teilzeit, die bis zur Rente andauert. Außerdem diskriminieren etliche Unternehmen Teilzeitbeschäftigte, indem sie ihnen einen beruflichen Aufstieg verwehren.
Mini-Jobs: 7,5 Millionen Menschen arbeiten in Mini-Jobs, in denen sie maximal 450 Euro im Monat verdienen dürfen. Entgegen der ursprünglichen Idee haben sich Minijobs für die Beschäftigten nicht als Einstieg in gute Arbeit erwiesen, resümieren die DGB-Autoren. Für 4,7 Millionen handelt es sich um die einzige Einkommensquelle. 1,2 Millionen der Erwerbstätigen sind zusätzlich auf Hartz IV angewiesen. Die Erwerbsarmut hat sich seit 2004 verdoppelt.
Leiharbeit: Eine Million Menschen Leiharbeiter*innen gibt es derzeit. Unternehmen nutzen sie mit der Begründung, Produktionsschwankungen auszugleichen, doch sie sind wie Werkverträge Bestandteil des »Geschäftsmodells Ausbeutung«. Viele dieser Beschäftigten haben keine Aussicht auf reguläre Beschäftigung, sie wechseln immer wieder zwischen Leiharbeit, Arbeitslosigkeit und abhängiger Beschäftigung. Problematisch ist Leiharbeit zudem, weil sie Belegschaften in Beschäftigte erster und zweiter Klasse spaltet.
Befristungen: Rund 44% der neu eingestellten Beschäftigten bekommen nur einen befristeten Arbeitsvertrag. Berufseinsteiger*innen und unter 35-Jährige sind zu 60% in solchen unsicheren Beschäftigungsverhältnissen angestellt – meist ohne Sachgrund. Im öffentlichen Dienst und im Wissenschaftsbetrieb sind Befristungen nahezu die Regel. Bei der Deutschen Post verfügt jeder fünfte Brief- und Paketzusteller nur über einen befristeten Vertrag, viele davon mit einer Laufzeit von unter drei Monaten.
Bei Werkverträgen gebe es keine offiziellen Daten, so die Autoren des DGB-Atlas. Statistisch erfasst werden nur die Solo-Selbständigen, die überwiegend über Dienst- oder Werkverträge Aufträge erfüllen. Deren Zahl ist von 1,4 Millionen im Jahr 1991 auf 2,3 Millionen im Jahr 2016 angestiegen. Die Hälfte der Solo-Selbständigen in Deutschland hat nur ein Einkommen im Niedriglohnbereich. Außerdem ist der Schutz vor Krankheit und Verdienstausfall sowie die materielle Absicherung im Alter unzureichend.
Ausbeutung äußere sich vermehrt auch bei neuen Arbeitsformen, wie auf sogenannten Crowdworking-Plattformen, die als Vermittler zwischen Konzernen und Arbeitnehmern stehen. Dazu gehören u.a. das Texten von Produktbeschreibungen, die Recherche von Adressen, aber auch anspruchsvollere Programmier- oder Webdesignarbeiten. Viele der Crowdworker seien Solo-Selbständige, die nur selten den gesetzlichen Mindestlohn beziehen, weil das Anstellungsverhältnis über die digitale Plattform und nicht über ein Unternehmen abgewickelt wird. Dazu zählten auch die Fahrradkuriere der Essenslieferdienste wie DELIVERO und FOODORA – ein Sektor, in dem dringender Handlungsbedarf im Arbeitsschutz besteht.
Lohnspreizung – Lohnquote – Tarifbindung
Die Einkommensungleichheit ist hierzulande weit stärker als andernorts in der Europäischen Union gestiegen, stellen die Autor*innen fest. Das liege zwar auch an den steuerlich und selbst statistisch nicht korrekt erfassten Besitz- und Vermögenseinkommensbezieher*innen, vor allem aber an der Ausweitung des Niedriglohnsektors. Unterstützt wird der Trend durch das gezielte Outsourcing von Dienstleistungen wie Kantinen, Reinigung oder die Wartung von Anlagen, alles einst zu Industriebetrieben gehörend. Die Einführung des Mindestlohns habe zwar den Arbeitsmarkt am unteren Rand stabilisiert, so die Autoren des Atlas, doch ein wirksames Mittel für eine Existenzsicherung kann der Mindestlohn nur dann sein, wenn er deutlich stärker als in der Mindestlohnkommission diskutiert angehoben wird. Das Bundesarbeitsministerium hat auf eine Anfrage der Fraktion der Linken im Bundestag bestätigt: Damit Beschäftigte, die dauerhaft einen Mindestlohn erhalten, im Alter eine Rente oberhalb der Grundsicherung beziehen können, müsste die gesetzliche Untergrenze bei 12,63 Euro liegen – derzeit liegt sie bei 8,84 Euro.
Die Lohnquote (Anteil von abhängigen Erwerbseinkommen am Volkseinkommen) sinkt kontinuierlich. Während sie Anfang der 2000er Jahre noch bei 72% lag, beträgt sie mittlerweile nur noch 68%. Und während die Gruppe mit extrem hohem Einkommen wachse, seien die mittleren Einkommen geschrumpft, so der DGB-Atlas. Zur Auseinanderentwicklung der Einkommen trage bei, dass in immer weniger Betrieben Tarifverträge gelten würden. Nur noch jede/r zweite Beschäftigte arbeite in einem tarifgebundenen Betrieb. Tarifgebundene Arbeitnehmer*innen verdienten im Jahr 2014 mit 20,74 Euro pro Stunde rund 18% mehr als Beschäftigte in nicht tarifgebundenen Betrieben (17,52 Euro).
Auch um die mittleren Einkommen zu stärken, fordern die Verfasser der Studie flächendeckende Branchenflächentarife. Doch dazu müssten sich wieder mehr Beschäftigte in einer Gewerkschaft organisieren. Die Zahl der organisierten Beschäftigten sinkt hingegen: Ende 2017 hatten die DGB-Gewerkschaften nur noch knapp sechs Millionen Mitglieder. Im Jahr 2000 waren noch 7,8 Millionen Beschäftigte Mitglied in einer DGB-Gewerkschaft.
»Trotz der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns und Ansätzen für mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt bleiben viele Probleme wie bei der Tarifbindung – etwa bei der Allgemeinverbindlicherklärung –, der Mitbestimmung, der prekären Beschäftigung, psychischen Belastungen oder der strukturellen Benachteiligung von Frauen bislang weitgehend ungelöst«, stellt der DGB-Bundeskongress 2018 fest. Der Druck auf die neue GroKo sollte deshalb zunehmen.
Angemessene Verdienste oberhalb des Mindestlohns wären wiederum nur mit gestärkten Tarifvertragssystemen zu erreichen. Seit 2015 sei es immerhin leichter geworden, einen Tarifvertrag für alle Betriebe einer Branche als allgemeinverbindlich zu erklären, also auch für die nicht tarifgebundenen. Bei allgemeinverbindlichen Tarifverträgen gelten die Bedingungen und neu ausgehandelten Lohnerhöhungen für alle Beschäftigten einer Branche. Derzeit sind rund 440 Tarifverträge allgemeinverbindlich, das sind lediglich 1,5% der Branchentarifverträge.
Der »Atlas der Arbeit« zeigt: Es muss für mehr für Gerechtigkeit in der Arbeitswelt gekämpft werden. Den Gewerkschaften komme dabei eine zentrale Rolle zu. Das Streikrecht als Grund- und Menschenrecht müsse deshalb gestärkt werden, fordern die Autor*innen der Studie.
Zu Information:
Kostenloser Download »Atlas der Arbeit« und der Grafiken: www.boeckler.de/atlas-der-arbeit
15. Mai 2018 Otto König/Richard Detje: DGB: »Atlas der Arbeit«, sozialismus,