Jatho zum “Dienstagskranz zu Gießen”
Leserbrief von Jörg Peter Jatho zu dem Artikel von Herrn Thomas Wißner im Anzeiger vom 14. November, S. 21, über den „Dienstagskranz zu Gießen.
Man kann den Artikel von Thomas Wißner in Komposition und Stil als eine Gefälligkeit für einen alten einheimischen Verein ansehen, schon in der Unterüberschrift zur „Pflege der Freundschaft und Förderung einer heiteren Lebensanschauung“ werden die nett lächelnden Herren unter einem alten Denkmal
harmonisiernd ins Bild gesetzt. Hinter der verharmlosenden Fassade der Gemütlichkeit ging es jedoch vor allem um Macht und Einfluß durch soziale Vernetzung, dafür steht z.B. das Foto des Oberbürgermeister Karl Keller (1914-1934) als Repräsentant dieser Verhandlungsbörse für politische Vorentscheidungen. Die diesbezügliche Geschichte der Stadt Gießen verlief weniger harmonisch. Die im Text besprochenen Personen erlebten zwei grausige Weltkriege und den deutschen Nationalsozialismus und haben sich zum großen Teil kräftig daran beteiligt. Da in Gießener Festreden immer wieder intensiv darauf hingewiesen wird, wie verdienstvoll es sei, diese dunkle Vergangenheit aufzuarbeiten, soll diesem Wunsch hier gefolgt werden.
Auf Anhieb habe ich in meiner NS-Datei zwei Dutzend Personen unter den Mitgliedern dieses Vereins gefunden, die als NSDAP-Mitglieder dieser staatstragenden Partei angehörten. Mit Namen, Geburtsdatum, Beruf, Parteieintrittsdatum und der Zugehörigkeit zu anderen NS-Organisationen (Minimalzahlen) seien sie hier kurz angeführt:
Bleyer, Ernst, 1885, Bank-Dir., 15.3.40
Prof. Boening, Heinz, 1895, Neurologe, 10.2.40, 7 NS-Org.
Prof. Brüggemann. Alfred, 1882, HNO-Dir., 28.9,37, 12 NS-Org.
Prof. Brüning, August, 1874, Chirurg, 1.4.36, 9 NS-Org.
Dr. Colnot, Hermann, 1888, LandGerPräs, 1.5.33, SA
Prof. Eger, Otto, 1877, Jurist, 8.7.40, (s. Abbildung)
Dr. Engau, Robert. 1882, Ob.Med.Rat, 1.2.32, 6 NS-Org
Engisch. Ludwig, 1900, RA, 1.5.37, Alldt, 7 NS-Org
Frey, Johannes, 1882 Bürgermeister, 1.5.37
Dr med. Gros, Franz, 1885, Arzt, 4.11.40, Alldt
Prof. Hildebrandt, Fritz, 1887, Pharmakologe, 9.10.37, 2 NS-Org
Prof. Klute, Fritz, 1885, Geograph, 4.11.37, Alldt + 6 NS-Org
Prof. Küst, Diedrich, 1888, Vet.Med., 1.5.37, Alldt + 8 NS-Org.
Dr-Lotz, Hugo, 1893, Kreis-Dir/Bgm, 1.3.33, Rede für Rassehygieniker Kranz
Dr med Neumann-Spengel, Werner, 1882, Arzt, 1.4.36 + 8 NS-Org.
Dr. Oßwald, Karl, 1867, ObMedRat, 1.5.33, SA-F + 5 NS-Org
Dr. Pauly, Ernst, 1888, Fabrikant, 1.4.33, SA-F + 5 NS-Org
Prof. Schliephake, Erwin, 1894, inn. Med, 1.5.37 + 7 NS-Org
Prof. Sessous, Georg, 1876, Ernährungswissenschaft, 1.4.33, Alldt + 6 NS-Org.
Thiel, Hermann, 1886, Markscheider, 1.5.33 + 4 NS-Org
Prof. Weitz, Ernst, 1883, Chemie, 1.5.37, + 6 NS-Org
Dr. med Wilhelmi. Hans, 1898, 1.5.33, SS-F + 6 NS-Org
Dr.jur. Wirtz, Wilhelm, 1894, HauptgeschäftsF, 29.11.39
Zimmer, Jakob Friedrich, 1899, RA/DNVP-Politiker, 10.1.39, Alldt + 2 NS-Org
Dozenten hatten darüber hinaus die Möglichkeit, sich in ns-mainstreamkonformen Vorträgen zu profilieren oder sich an „wissenschaftlichen“ Unternehmungen zu beteiligen wie z.B. Prof. Hildebrandt 1944 an der Giftgasforschung oder Prof. Klute 1940 den Ostraum Europas „wehrgeographisch“ betrachtend. Aber auch Nichtparteimitglieder haben sich im Nationalsozialismus begeistert engagiert, wie z. B. der Bankdirektor (und Militarist) Ludwig Grießbauer, ein Machtmensch und enger Freund Otto Egers. Es war also das akademische Bildungsbürgertum, das in der Universitätsstadt Gießen die Hitlerbewegung hauptsächlich motiviert hat. Jakob Friedrich Zimmer geriet in den 80ern posthum in eine heftige Kontroverse zwischen dem lokalen Geschichtsverein und einer Reimann-Gruppe durch eine Ausstellung, in der er wegen seiner rechtsradikalen Vergangenheit als 2. ASTA-Vorsitzender, Mitglied des Völkisch-Sozialen Blocks (der NS-Vorgängerpartei von 1924) und seiner Rolle als DNVP-Vorsitzender in Gießen (diese Partei verhalf 1933 Hitler zur Macht) zu Recht kritisiert worden ist.
In einer Schrift des Vereins von 1940 „Der Dienstagskranz in Gießen. Seine Geschichte von 1825 bis 1940“ werden Juden, die in der Gießener Kulturgeschichte ja durchaus eine Rolle gespielt hatten, nicht mehr erwähnt. Es wird aber dort auf den „unserm deutschen Volke nun schon wieder aufgezwungenen Krieg“ verwiesen und dieser mit „Heil und Sieg!“ begrüßt.