Kosten der Unterkunft: Transferleistungsbezieher sitzen in der Falle!
Seit Beginn der Diskussion um die Erarbeitung eines sog. Schlüssigen Konzepts für die Ermittlung der KdU im Jahr 2012 hat sich die Kristagsfraktion der Gießner Linke aktiv daran beteiligt. Als die ersten Konzepte vorlagen, haben wir diese mit zahlreichen Anträgen immer wieder kritisiert und Alternativen aufgezeigt. Schon sehr früh wurde dabei auch von uns die willkürliche Aufteilung des Kreisgebietes in Wohnungsmarkttypen umfassend abgelehnt, die Anfang 2019 im Zentrum des Urteils des BSG stand und von diesem verworfen wurde.
Auch wer sich nie die Arbeit gemacht hat, das Schlüssige Konzept zu lesen, musste spätestens seit 2016 aus Gründen der Plausibilität stutzig werden. Denn seit diesem Jahr wurden für die Kommunen des Wohnungsmarktyps II (Lich, Fernwald, Linden und Pohlheim) bei den meisten Wohnungsgrößen höhere Erstattungsbeträge für die KdU ausgewiesen als für Gießen. Niemand, der die Region kennt, konnte annehmen, dass dieses Konzept die Realität auf dem Wohnungsmarkt erfasst.
Deswegen war es nur folgerichtig, dass die Überprüfung der tatsächlichen Wohnungsmieten durch das Jobcenter im Jahr 2015 bei 2337 Haushalten lediglich für 1222 Mieten im Rahmen der Richtsätze ermittelte, im Jahr 2016 waren es 1268 von 2379 Haushalten – also jeweils gut 50 Prozent der betroffenen Haushalte fanden eine Wohnung im Rahmen der gültigen Richtwerte (s. Antrag Nr. 0343/2017).
Die Diskussion hat aber jetzt eine andere Dimension bekommen. Denn seit einigen Monaten liegen Zahlen vor, die exakt die Differenz zwischen tatsächlicher und erstatteter Miete erfassen.
In der Antwort auf eine Anfrage im Bundestag hat das Arbeitsministerium für das Jobcenter Gießen die folgenden Zahlen ermittelt (Drucksache 19/2536 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/025/1902536.pdf).
Differenz aus tatsächlichen und anerkannten laufenden Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) / Anteil der Differenz zwischen tatsächlicher und anerkannter KdU
2011 | 2.192.000 € | 4,9 % |
2012 | 1.895.000 € | 4,2 % |
2013 | 1.676.000 € | 3,6 % |
2014 | 1.837.000 € | 3,8 % |
2015 | 1.923.000 € | 4,0 % |
2016 | 1.878.000 € | 3,8 % |
2017 | 1.822.000 € | 3,3 % |
2018 | 2.606.074 € | 5,6 % |
Zahlen 2018 s unten. Hess. Landtag Drucksache 20/1531
Anzahl der Bedarfsgemeinschaften mit Differenz zwischen tatsächlicher und anerkannter laufender KdU / Anteil an allen Bedarfsgemeinschaften
2011 | 3.413 | 34,8 % |
2012 | 2.721 | 28,2 % |
2013 | 1.944 | 19,8 % |
2014 | 1.794 | 18,1 % |
2015 | 1.790 | 17,8 % |
2016 | 1.683 | 16,6 % |
2017 | 1.584 | 14,3 % |
Differenz aus tatsächlichen und anerkannten laufenden KdU pro Bedarfsgemeinschaft mit Differenz
Monatsdurchschnitt in € pro BG | |
2011 | 54 € |
2012 | 58 € |
2013 | 72 € |
2014 | 85 € |
2015 | 90 € |
2016 | 93 € |
2017 | 96 € |
Aus der Drucksache 20/1531 des Hess. Landtages ist die Differenz je betroffener Bedarfsgemeinschaft zwischen tatsächlicher und erstatteter Miete jahresdurchschnittlich für den LK Gießen wie folgt:
2015 | 1.074,23 € |
2016 | 1.116,22 € |
2017 | 1.149,99 € |
2018 | 1.684,33 € |
Um diese Tabellen auf einen Nenner zu bringen: Im Jahr 2017 haben die Haushalte, die KdU erhalten, 1,822 Mio. Euro mehr für ihre Unterkunft bezahlt, als sie erstattet bekamen. Dies betraf insgesamt 1.584 Haushalte. Jeder dieser Haushalte zahlte durchschnittlich 96 € monatlich aus der eigenen Tasche, um die Miete zu bestreiten. Das entspricht bei einem Betrag von ca. 400 € für die monatliche Hilfen zum Lebensunterhalt einem Viertel der – vom Bundesverfassungsgericht erst jüngst wieder als Existenzminimum bezeichneten – monatlich verfügbaren Finanzmittel.
Für 2018 ist ein deutlicher Anstieg auf 2,606 Mio. Euro nicht erstatteter Wohnkosten zu verzeichnen. Bei einer durchschnittlichen Differenz von jährlich 1.684,33 Euro zahlte jeder der betroffenen Haushalte monatlich durchschnittlich ca. 134 Euro aus den HLU hinzu.
Damit ist die Summe der nicht erstatteten Wohnkosten im Jahr 2018 deutlich höher als die der nach Einwohnern und Transferleistungsbeziehern weitaus größeren Landkreise Main-Kinzig (960.717 Euro) oder Offenbach (1.342.066 Euro).
Damit wird deutlich, dass diese Praxis für 1.500 bis 2.000 Haushalte im Landkreis eine existenzielle Gefährdung darstellt.
Diese prekäre Situation für zahlreiche Menschen ist die Folge unzureichender KdU-Sätze nach dem sog. Schlüssigen Konzept von Analyse & Konzepte. Nichts spricht dafür, dass sich die Lage mit den neuen Sätzen in der Zukunft ändern wird.
Die Logik der Befürworter dieser Praxis geht davon aus, dass sich jeder Betroffene auf dem Wohnungsmarkt eine preiswertere Wohnung besorgen könne. Dies ist – für 1.500 bis 2.000 Haushalte – im LK Gießen unmöglich, eine geradezu phantastische Annahme. Denn wenn dem so wäre, könnte das Jobcenter oder der Landkreis ja den Betroffenen entsprechende Wohnungen anbieten bzw. vermitteln. Sie können und tun es nicht, weil es diese Wohnungen nicht gibt.
Die Wahrheit ist: Die betroffenen Haushalte haben keine Alternative. Es gibt keine preiswerteren Wohnungen. Um nicht auf der Straße zu landen, zahlen sie einen hohen Preis, der ihre Existenz gefährdet. Die Betroffenen befinden sich in einer Falle.