Zu Beginn des Wintersemesters 2008 begrüßt Pablo Iglesias seine Seminarteilnehmer am Institut für Politikwissenschaft der Madrider Universität Complutense mit der Aufforderung, sich wie in der berühmten Szene in Club der toten Dichter auf ihre Stühle zu stellen. Die angehenden Politologen sind zu ihm gekommen, um etwas über Herrschaft zu lernen. Seine erste Lektion lautet: Die Herrschenden kann man herausfordern, ihre Macht in Frage stellen. Die Aktion ist typisch für Iglesias. Er ist überzeugt, dass man Politik nicht nur studieren sollte. Man sollte sie machen.
Der smarte Uni-Dozent, damals gerade 29 Jahre alt, passt nicht in das klassische Bild eines doktrinären spanischen Linksintellektuellen. Doch er lässt keinen Zweifel daran, dass für ihn die Ursachen für die herrschenden Missstände im entfesselten, globalisierten Kapitalismus liegen, der seit langem die herrschende Ideologie ist.
Iglesias arbeitet mit Studierenden und wissenschaftlichen Mitarbeitern in den darauffolgenden Jahren hart daran, seine Vorstellungen unter die Leute zu bringen. Sie produzieren politische Fernsehshows und kooperieren mit ihren lateinamerikanischen Vorbildern wie Boliviens Evo Morales. Doch als sie im Januar 2014 eine Partei gründen, der sie den Namen Podemos („Wir schaffen es“) geben, ist die Resonanz zunächst gering. Ohne Geld, ohne Infrastruktur und mit nur wenigen konkreten Inhalten wirken sie nur wie eine weitere, von Empörung getragene und gegen den EU-Sparkurs gerichtete Protestpartei. Viele Beobachter gehen daher davon aus, dass sich Podemos schnell wieder in Luft auflöst.
Von Napoleon bis heute
Ein Jahr später, am 31. Januar 2015, geht Iglesias über eine Bühne auf Madrids Puerta del Sol. Der bekannteste Platz der spanischen Hauptstadt ist mit 150.000 Menschen dicht gefüllt. Iglesias wendet sich mit großer Leidenschaft an die Menge. Er wettert gegen die Ungeheuer des „Finanz-Totalitarismus“, die sie alle erniedrigt hätten. Er fordert seine Anhänger auf zu träumen – und ihre Träume ernst zu nehmen. Eine historische Veränderung sei im Gange. Die Versammelten seien Erben des einfachen Volks, das sich vor 200 Jahren in den umliegenden Straßen mit Messern, Blumentöpfen und Steinen gegen die Truppen Napoleons erhoben hatte. „Wir können träumen und wir können siegen“, ruft Iglesias.
Die Meinungsumfragen geben ihm recht. Sie kündigen den Abschied vom spanischen Zweiparteiensystem an. Die Tageszeitung El País sieht Podemos landesweit mit 22 Prozent vor dem regierenden konservativen Partido Popular (PP) und vor dem sozialdemokratischen Partido Socialista Obrero Español (PSOE), die seit 1982 im Wechsel das Land regieren. Wenn es Podemos gelingt, weiter zuzulegen, könnte Iglesias nach den Wahlen, die wohl im November stattfinden werden, Premierminister werden. Es wäre ein unglaublicher Erfolg für eine so junge Partei – und es würde Europa noch ungleich heftiger erschüttern als der Wahlsieg von Syriza in Griechenland.
An diesem Januartag in Madrid erklärt Iglesias auf der Bühne, Podemos werde den selbstgefälligen Eliten die Macht entreißen und sie in die Hände des Volkes legen. Dafür braucht die Partei möglichst viele Stimmen. Wenn sie dafür Emotionen wecken muss und von der bürgerlichen Presse deshalb des Populismus bezichtigt wird, nimmt sie das in Kauf. Und wenn sie dafür einige der radikaleren Vorstellungen aufgeben muss, um für mehr Menschen wählbar zu sein, ist sie auch dazu bereit.
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Auf den ersten Blick erscheint der schwindelerregende Aufstieg von Podemos wie ein Wunder. In Wahrheit hat sich das Projekt aber über eine längere Zeit als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen entwickelt. In Spanien ist heute ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung erwerbslos oder verdient weniger als 9.000 Euro im Jahr. In den Großstädten sind heute Menschen, die Mülltonnen nach Essbarem durchsuchen, ein alltäglicher Anblick. Vor der Krise gab es das nicht. Nach Jahren des wirtschaftlichen Wachstums brachte die Finanzkrise die Bau- und Immobilienblase des Landes zum Platzen. Zahllose Korruptionsfälle – in die sowohl die Konservativen als auch die Sozialdemokraten verwickelt waren – haben die Bevölkerung zudem gegen die politische Klasse aufgebracht. „In einer Krise braucht es Mut“, sagte Iglesias vor kurzem bei einem Auftritt. „Dann kann ein Revolutionär den Menschen in die Augen blicken und ihnen sagen: ‚Seht, diese Leute sind eure Feinde.̒̒̒
Als Teenager gehörte Iglesias dem kommunistischen Jugendverband in Vallecas an, einem der ärmsten Viertel Madrids. Dort lebt er noch immer, in einer bescheidenen Wohnung, die sich in einem graffiti-verzierten Gebäudekomplex befindet. Bereits als Teenager sei er eine Führungsfigur gewesen, die Zuhörer begeistern konnte, erinnert sich einer, der in derselben Jugendgruppe war. Iglesias studierte in Madrid Jura, bevor er ein zweites Studium in Politikwissenschaften absolvierte, eine Dissertation über zivilen Ungehorsam und die Antiglobalisierungsproteste verfasste und als Dozent zu arbeiten begann.
An der Madrider Universität Complutense traf er Leute, die ihm halfen, Podemos zu gründen. Stark von dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci beeinflusst, der die Bedeutung des Kampfes um die Apparate betonte, die die öffentliche Meinung prägen, fand die Gruppe auch Anregungen an der Universität von Essex. Dort begann der argentinische Politologe Ernesto Laclau in den 70ern, eine Reihe von Büchern über Marxismus, Populismus und Demokratie zu schreiben, die zusammen mit den Arbeiten von Laclaus belgischer Frau Chantal Mouffe (siehe der Freitag 07/15) einen großen Einfluss auf die Führung von Podemos haben. Hegemonie und radikale Demokratie von Mouffe und Laclau ist ein entscheidender Referenzpunkt für Podemos.
Waren die Liberalen für Iglesias schon lang Gegner und die Sozialdemokraten Verräter, so wand er sich schließlich auch von der traditionellen radikalen Linken ab, die das Fernsehen als niveaulos und manipulativ ablehnte. Und die nicht begriff, dass die politischen Haltungen der Menschen stärker durch die Medien bestimmt werden, die sie konsumieren, als durch die Loyalität zu bestimmten Parteien. Spaniens Rechte hatte das bereits Mitte der Nullerjahre verstanden und über neue Fernsehsender versucht, den gleichen Druck auf die konservative Partei auszuüben wie Fox News auf die Republikaner in den USA. Iglesias fand, es sei an der Zeit, dass die Linke dem etwas entgegensetzte.
Die Indignados
Im Mai 2010 organisiert er eine Diskussionsrunde, bei der die Sprecher jeweils nur 99 Sekunden Redezeit haben. Er bittet den kleinen Lokalsender Tele-K, die Debatte aufzuzeichnen. „Ich war beeindruckt von Pablos Fähigkeiten als Moderator und wie viel Mühe er und seine Leute sich mit der Sache gaben“, erzählt Paco Pérez, der Direktor von Tele-K. Er bittet Iglesias, eine ganze Reihe zu produzieren. Iglesias und sein Team nehmen die Idee sehr ernst, obwohl der Sender nur wenig Zuschauer hat. „Pablo probte sogar vorher – das hatte es bei uns noch nie gegeben“, sagt Pérez. „Das Tolle war, dass im Internet immer mehr Leute zuschauten. Die Show wurde Kult.“ Und zur Keimzelle für Podemos.
Am 15. Mai 2011 kommt Íñigo Errejón, der Mann, der Podemos̒ Nummer zwei werden wird, aus Ecuador zurück nach Madrid. In wenigen Tagen soll er dort an der Universität seine Dissertation einreichen, in der er den Erfolg von Boliviens erstem indigenen Präsidenten, Evo Morales, mit den Ideen Gramscis, Mouffes und Laclaus in Verbindung bringt. Freunde haben ihm geraten, zuerst direkt zur Puerta del Sol zu fahren, dort spiele sich Außergewöhnliches ab.
Aus einer Demonstration war eine Platzbesetzung geworden, zu der schließlich mehrere zehntausend Menschen kommen. Die Indignados (die Empörten) besetzen in der Folge Plätze im ganzen Land und machen gegen die politische Klasse mobil. „Sie vertreten uns nicht“ wird zum Schlachtruf. Umfragen zeigen, dass 80 Prozent der Bevölkerung hinter den Demonstranten stehen. Für Iglesias und seine Uni-Kolleginnen sind die Proteste eine Bestätigung ihrer Analysen. Das Einverständnis der beiden größten spanischen Parteien mit dem von Deutschland auferlegten Spardiktat hat viele Bürger politisch heimatlos gemacht. „Die Politiker regierten zwar noch, konnten die Menschen aber nicht mehr erreichen“, erzählt Errejón.
Trotzdem sind einen Monat nach Beginn der Proteste die Plätze wieder leer. Ende 2011 wählt Spanien eine neue Regierung. Die enttäuschten Wähler sehen, dass auch der PSOE nur wenig mehr zu bieten hat als die Unterwerfung unter Angela Merkels Forderungen nach weiteren Sparanstrengungen. Aufgrund einer geringen Wahlbeteiligung gewinnt Mariano Rajoys PP die absolute Mehrheit und beschließt weitere Kürzungen. Es scheint, als sei der Geist der Indignados gebrochen.
Doch die Versammlungen gehen weiter, und für die meisten, die politisch aktiv sind, wird Iglesias Fernsehshow zur Pflichtsendung. Nach einer Weile wechselt die Show auf die Internet-Nachrichtenseite Público und wird zunehmend professioneller. Jede Sendung beginnt mit einem einleitenden Statement von Iglesiaś oder einem Kollegen, dann folgt eine Debatte, schließlich Rapmusik. Als Irans staatlicher spanischsprachiger Fernsehsender HispanTV wegen einer Zusammenarbeit anfragt, nimmt die Gruppe das Angebot an. Die neue Sendung Fort Apache fängt damit an, dass Iglesias auf einer Harley Davidson sitzt, einen Helm aufsetzt, eine gewaltige Armbrust über seinen Rücken wirft und donnernd davonfährt. Es ist eine Mischung aus Revolutionspathos, Rockerkitsch und selbstironischer Übertreibung.
Doch die Aktivisten predigen noch immer nur zu einer kleinen Zahl Gleichgesinnter. Das ändert sich im April 2013, als Iglesias in einer rechten Diskussionssendung auftritt. „Es ist mir ein Vergnügen, die feindlichen Linien zu überqueren und mit Ihnen zu diskutieren“, sagt Iglesias zur Begrüßung. Er muss sich allein gegen vier Konservative bewähren. Doch er ist gut vorbereitet und verteidigt die sozialen Proteste eloquent. Schon bald darauf wird er in Talkshows der großen, etablierten Sender eingeladen. Die Einschaltquoten steigen, wenn er zu Gast ist.
Iglesias verfügt über ein scheinbar unerschöpfliches Faktenwissen und führt seine Mitdiskutanten ein ums andere Mal vor. Gebetsmühlenartig wiederholt er, „die Kaste“ trage die Verantwortung für die Probleme des Landes. Damit meint er korrupte Eliten aus Wirtschaft und Politik, die Spanien seiner Meinung nach an die Banken verkauft haben. Seine anderen Hauptfeinde sind die deutsche Bundeskanzlerin und die nicht demokratisch legitimierten Bürokraten der Europäischen Zentralbank. Iglesias will, dass Spanien in der Eurozone bleibt, sieht bei dieser aber gewaltigen Reformbedarf. Wie Syriza in Griechenland geht es ihm darum, den Bürgern ihre Souveränität zurückzuerobern.
Ein Medienstar ist geboren. Viele kennen ihn nur als el coletas (der mit dem Pferdeschwanz). Jahrelang hat er auch an seiner Rhetorik gefeilt, Theater gespielt und sogar einen Kurs für Fernsehmoderatoren belegt. Dass Kommunikation bei Protesten die entscheidende Rolle spielt, hat er bereits in seiner Doktorarbeit betont.
Wie in einer Kirche
Der Masterplan für Podemos wird dann bei einem Essen im August 2013 festgeklopft. Iglesias und der 33-jährige Miguel Urbán von der kleinen Partei Izquierda Anticapitalista (IA), der Antikapitalistischen Linken, verständigen sich auf eine Zusammenarbeit. Es ist die ungewöhnliche Verbindung zwischen einem charismatischen Anführer und einer Organisation, die Hierarchien verabscheut. „Pablo verfügt über politisches und mediales Prestige, aber das allein reicht nicht aus“, sagt Urbán. „Wir brauchten eine Organisationsbasis, die über das ganze Land reicht. Die hat die IA.“
Endlich kann die Gruppe Madrider Akademiker ihre Vorstellungen auf nationaler Ebene ausprobieren. Am 17. Januar 2014 kündigt Iglesias in einem kleinen Theater in Madrid offiziell die Gründung von Podemos an. Er erklärt, ein Eckpfeiler des Projekts werde in „Zirkeln“, also Versammlungen im Stile der Indignados bestehen. Diese Zirkel könnten sich als Basisgruppen zusammenfinden, sich treffen, diskutieren und persönlich oder online über Anträge abstimmen.
Das Projekt Podemos kommt dabei mit zwei Widersprüchen zur Welt. Erstens: Es will radikal und pragmatisch zugleich vorgehen, um an die Regierung zu kommen. Und zweitens: Obwohl die Partei von der Popularität eines Mannes abhängt, soll die Basis die Kontrolle behalten. Doch am Anfang denkt kaum einer an diese Spannungen. Es herrschen Begeisterung und Idealismus. Überall sind die ersten Veranstaltungen voll, auch wenn die Medien kaum berichten. Für die Beteiligten ist der enorme Zuspruch fantastisch: „Wir nahmen bei einem einzigen Treffen 2.000 Euro an Spenden ein. Es war, wie wenn man einer Kirche angehören würde“, erzählt Urbán.
Podemos beginnt damit, ein partizipatives Wahlprogramm für die Europawahlen aufzustellen. Es basiert auf Ideen aus den Zirkeln, über die online abgestimmt wird. Das Resultat ist zwar originell, aber nur wenig durchdacht. So enthält es zum Beispiel die Forderung nach einem staatlichen Grundeinkommen ohne echte Finanzierung. Oder danach, die „illegitimen Teile“ der öffentlichen Schulden nicht zurückzuzahlen – ohne auszuführen, welche damit genau gemeint sind. Zwei Forderungen, von denen Podemos inzwischen auch wieder Abstand genommen hat.
In der Wahlnacht überrascht die neue Partei alle, indem sie acht Prozent der Stimmen gewinnt. Iglesias und vier weitere Kandidaten werden Mitglieder des Europaparlaments. Doch Iglesias reagiert cool. Der PP ist noch immer an der Regierung. Die Schlacht hat gerade erst begonnen.
Originell, aber undurchdacht
Spanien ist nicht Griechenland. Die Sparmaßnahmen sind zwar sehr schmerzhaft – vergangenes Jahr musste allein die katholische Caritas 2,5 Millionen Menschen mit Kleider- und Lebensmittelspenden helfen –, doch sie haben noch nicht zu der existenziellen Not geführt, die man auf den Straßen Athens sehen kann, wo sich vor Apotheken, die Medikamente kostenlos an Bedürftige ausgeben, lange Schlangen bilden. Die Angst, dass es auch in Spanien so weit kommt, ist aber allgegenwärtig.
8.000 Menschen sind im Januar zu einer Podemos-Veranstaltung in Valencia ins Basketballstadion gekommen. Aus den Lautsprechern dröhnt Patti Smiths People have the power. Unter rauschendem Beifall betreten Iglesias und Errejón die Bühne. Als Hauptstadt einer Provinz, die für ihre Korruption berüchtigt ist, ist Valencia ein besonders fruchtbarer Boden für Podemos. Iglesias liest einen Brief der kleinen Nerea vor, die an diesem Tag ihren neunten Geburtstag feiert und mit ihren Eltern im Publikum steht. „Wir mögen dich, weil du den Leuten hilfst. Danke, dass du meinen Eltern wieder Hoffnung gibst.“ Ihr Vater hält das Mädchen hoch. Iglesias sagt: „Sie haben nicht vor mir Angst, Nerea. Sie haben Angst vor dir und deiner Familie, und vor allen, die die Nase voll haben.“
John Carlin, ein gebürtiger Brite, der für El País schreibt, beschreibt diese Rhetorik so: Iglesias erzähle den Massen eine religiöse Geschichte, die der Bibelerzählung gleiche, in der Jesus die Händler aus dem Tempel vertreibt. Viele Podemos-Anhänger zögen offenbar die starken Emotionen eines gemeinsamen Glaubens der kalten Analyse vor. Und so hört man in Valencia auch Publikumsstimmen, die Iglesias quasi-erweckt zurufen: „Lang lebe die Mutter, die dich zur Welt gebracht hat!“
Neben dem Charisma ihrer Nummer eins sind die etwa 900 Basisgruppen für die Popularität von Podemos entscheidend. Jeder kann sich einbringen und mit abstimmen. Will Podemos mehr sein als eine traditionelle Partei, darf dieser basisdemokratische Ansatz nicht scheitern. Die Tools zur Stimmabgabe und Online-Diskussion sind daher auf dem neuesten Stand. Die Diskussionsseite Plaza Podemos zieht zwischen 10.000 und 20.000 Besucher pro Tag an.
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Inwieweit direktdemokratische Ansätze in der Partei sonst eine Rolle spielen sollen, ist noch nicht entschieden. Beschlossen ist nur, dass führende Parteimitglieder, einschließlich Iglesias, per Referendum abgewählt werden können. Und dass über mögliche Koalitionen nach Wahlen alle Mitglieder abstimmen müssen. Ob es Podemos gelingt, zwischen den basisdemokratischen Erwartungen und dem starken Einfluss von Iglesias und seiner Gruppe einen Ausgleich zu finden, ist wohl die spannendste Frage für die Zukunft der Partei.
Als es bei einer offenen Versammlung im vergangenen Herbst darum ging, festzulegen, welche Struktur die Partei nun haben soll, plädierte Iglesias’ Team für einen starken Vorsitzenden. Pablo Echeniques Alternativantrag für eine Dreierspitze wurde zwar von vielen Basisgruppen unterstützt, erhielt dann aber nur ein Fünftel der online abgegebenen Stimmen. „Man könnte sagen, dass Iglesias die oberflächlicheren Stimmen erhalten hat“, sagt Miguel Arana Catania von einer Consulting-Firma, die Podemos berät. „Das waren die Leute, die ihn im Fernsehen gesehen hatten.“
Führende Mitglieder betonen, dass das Projekt ohne Iglesias’ Vision und Fähigkeiten so nicht möglich wäre. Das macht ihn nicht zu einem zweiten Hugo Chávez, wie viele Gegner behaupten, aber es wirft Fragen auf, wie mächtig er möglicherweise noch werden kann. „Ich bin nicht unersetzbar“, sagt er selbst dazu. „Und ich unterwerfe mich dem Willen der Mehrheit.“
Die Mitglieder seines Teams aus 60 Leuten bekennen offen ihre unverbrüchliche Loyalität. „Wenn ihn jemand angreift, nehme ich das persönlich“, sagt einer. Viele haben ihr Studium, ihren Beruf oder ihre Beziehung für das Projekt Podemos geopfert. Diejenigen, die Kinder haben – es sind nur wenige, da das Durchschnittsalter gerade einmal 26 beträgt –, klagen, die Arbeit zehre zu sehr. Obwohl die Partei bei der Postenvergabe Reißverschluss-Listen aufstellt, bei denen sich Männer und Frauen abwechseln, sind Männer in der Mehrheit.
Podemos hat mittlerweile eine neue Zentrale in Madrid, nur ein paar Stockwerke unter den schmuddeligen Büros, in denen sie nach den Europawahlen ihr Lager aufgeschlagen hatten. In diesem farblosen Bürogebäude erklärt sich Iglesias zu einem längeren Interview bereit. Er wirkt irgendwie deplatziert in dem makellosen, aber auch nichtssagenden Raum, der an ein Hotelzimmer erinnert. Seine Haare sind wie immer mit einem Gummiband zum Zopf gebunden. Und wie immer trägt er Hemd, Jeans und Turnschuhe.
Er ist sich des Widerspruchs bewusst, dass eine Partei mit antikapitalistischen Wurzeln darum wirbt, eine kapitalistische Gesellschaft zu regieren. „Kurzfristig müssten wir uns darauf beschränken, den Staat zu nutzen, um mehr umzuverteilen, die Steuern gerechter zu gestalten, die Wirtschaft in Gang zu bringen und Spanien wieder zu einem souveränen Land zu machen. Wir akzeptieren, dass es zum Euro keine Alternative gibt. Die Veränderung, für die wir stehen, dreht sich in gewisser Weise darum, einen Konsens wiederherzustellen, der vor 20 Jahren noch Teile der Christdemokraten miteingeschlossen hätte.“ Iglesias sagt, er würde wirtschaftliche Anreize setzen, indem er den gesellschaftlichen Reichtum gerechter verteilen, die Kaufkraft der Ärmeren stärken und die öffentlichen Ausgaben hochfahren würde. Das Ganze will er mit höheren Steuern gegenfinanzieren.
Eine von Podemos geführte Regierung könnte einiges von den Erfahrungen in Griechenland lernen, sagt Iglesias. Er sieht in dem Deal, den Syriza im Februar einging, um das Kreditprogramm um vier Monate zu verlängern, keinen Rückzieher seines Freundes Tsipras. „Ein kleines Land, das für die Eurozone weit weniger von Bedeutung ist als Spanien, hat die Art und Weise verändert, wie die Dinge gehandhabt werden – indem es eine harte Haltung einnahm.“ In den EU-Sparverhandlungen würde er Spaniens Gewicht als viertgrößte Volkswirtschaft der Eurozone in die Waagschale werfen. „Man kann natürlich nicht alles bekommen, was man gern hätte, aber wenn man unbeirrt in die Verhandlungen geht, kommen am Ende zweifellos andere Ergebnisse heraus.“
Wer ist hier ein Populist?
Fragen nach einem etwaigen Populismus der Partei beantwortet er gern mit Verweis auf Mariano Rajoys Wahlversprechen von 2011, 3,5 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, woraufhin weitere 600.000 verschwanden. „Die wahren Populisten sind die, die unhaltbare Versprechen abgeben.“
Die Regionalwahlen am 24. Mai werden zeigen, ob Podemos noch weiter so schnell wachsen kann. In den vergangenen Monaten hat mit Ciudadanos eine neue Anti-Establishment-Partei von rechts die politische Landschaft abermals verändert. Auch sie verspricht eine Ära der Transparenz ohne Korruption und Vetternwirtschaft. Die Medienberichterstattung, die die engen Beziehungen zwischen Podemos und Venezuela zu skandalisieren versucht, hat Iglesias’ Partei vor der Wahl zum andalusischen Regionalparlament im März zwar etwas geschadet. Sie konnte mit 15 Prozent den Stimmenanteil im Vergleich zu den Europawahlen aber trotzdem verdoppeln.
Schon jetzt hat Podemos den Status quo unwiederbringlich verändert. In einem Kurs, den Iglesias im Dezember für Studierende im Europäischen Parlament abhielt, räumte er ein, dass linke Kritiker ihn einen feigen Reformer schimpfen würden, sollte er nach den Wahlen nach den kapitalistischen Regeln regieren, die zurzeit in Europa herrschen. „Auf diesen Vorwurf kann ich aber nur antworten: Und wo sind eure Waffen, um den Kapitalismus zu überwinden?“ Die Zukunft von Podemos wird wohl ebenso sehr von Realismus wie von Idealismus bestimmt werden. Was er seinen Studierenden in Madrid 2008 klarmachen wollte, hat Iglesias allerdings bereits unter Beweis gestellt: Die Herrschenden können in der Tat herausgefordert werden.