Prof. Dr. Christoph Butterwegge: Beweggründe für meine Bewerbung um das Bundespräsidentenamt
Mit meiner Kandidatur möchte ich die Öffentlichkeit für soziale Probleme sensibilisieren, denn
obwohl die Gesellschaft immer stärker auseinanderfällt, nimmt das Establishment diesen Polarisierungsprozess nicht oder falsch wahr. Außerdem möchte ich der weiteren Zerstörung des Wohlfahrtsstaates durch neoliberale Reformen entgegentreten – gerade wird die Privatisierung der Autobahnen und damit ein neuerlicher Höhepunkt der Ökonomisierung und Kommerzialisierung
aller Lebensbereiche vorbereitet – sowie jenen Teilen der Bevölkerung eine politische Stimme
geben, die immer stärker ausgegrenzt werden.
Seit geraumer Zeit zerfällt unsere Gesellschaft stärker in Arm und Reich, weil die soziale Ungleichheit
hinsichtlich der Einkommen und Vermögen enorm zugenommen hat. Während das
reichste Geschwisterpaar der Bundesrepublik, Stefan Quandt und Susanne Klatten, im Frühsommer
2016 für das Vorjahr eine Rekorddividende in Höhe von 994,7 Millionen Euro nur aus ihren
BMW-Aktien bezog, lebten fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche in landläufig als „Hartz-
IV-Familien“ bezeichneten SGB-II-Bedarfsgemeinschaften und mussten je nach Alter mit 237,
270 bzw. 306 Euro im Monat (plus Miet- und Heizkosten) auskommen. Mehrere hunderttausend
alleinerziehende Mütter im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind froh, wenn sie am 20. des Monats
noch etwas Warmes auf den Tisch bringen.
Trotzdem vernimmt man im Kampf gegen die Armut von den etablierten Parteien und deren Spitzenpolitikern hauptsächlich Lippenbekenntnisse. Obwohl das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes
den Bund zur Armutsbekämpfung verpflichtet, hat keine Regierung die Armut bisher als Gefahr
für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erkannt und ihr konsequent entgegengewirkt. So
beschloss die Große Koalition vor Kurzem, den Hartz-IV-Regelbedarf der Kinder unter 6 Jahren
im nächsten Jahr nicht zu erhöhen.
CDU, CSU und SPD verschließen die Augen vor dem selbst mitverschuldeten Problem einer
wachsenden Armut, wie ihr „Deutschlands Zukunft gestalten“ überschriebener Koalitionsvertrag
für die laufende Legislaturperiode zeigt. Dort kommen das Wort „Reichtum“ nur als „Ideenreichtum“ bzw. als „Naturreichtum“ und der Begriff „Vermögen“ nur als „Durchhaltevermögen“ bzw.
im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor.
„Armut“ taucht in dem Dokument, das die Grundlage der Regierungspolitik bildet, zwar zehn
Mal auf, aber ausnahmslos in fragwürdiger Weise. So wollen CDU, CSU und SPD „den Kampf
gegen Bildungsarmut fortsetzen und intensivieren“, meinen damit aber den Analphabetismus,
während von Kinder- und Jugendarmut an keiner Stelle die Rede ist. Den von Sozialgeld („Hartz
IV“) lebenden Kindern wird je nach Alter ein Regelbedarf für Bildung in Höhe von 1,61 Euro,
1,30 Euro bzw. 0,32 Euro zugebilligt. „Altersarmut“ kommt zwar ein Mal vor, und zwar sogar in
der Zwischenüberschrift „Altersarmut verhindern – Lebensleistung würdigen“, die das Motto für
die Rentenpolitik der Regierungskoalition bildet. Darunter heißt es, die sozialen Sicherungssysteme,
auf die sich die Menschen in unserem Land verlassen können müssten, schützten vor Armut
und seien Ausdruck des Zusammenhalts unserer Gesellschaft. Beide Formulierungen legen
jedoch den Schluss nahe, dass Altersarmut in Deutschland (noch) nicht existiert, denn von der
Notwendigkeit ihrer Bekämpfung, Verringerung oder Beseitigung ist nirgends die Rede.
Dem hierzulande vorherrschenden Armutsverständnis gemäß wird das Phänomen im Koalitionsvertrag
hauptsächlich mit der sog. Dritten Welt in Verbindung gebracht. Nicht weniger als vier
Mal taucht Armut in diesem Zusammenhang auf, der jedoch verdeckt, dass sie in einem reichen
Land wie der Bundesrepublik – wenn auch in anderer, weniger dramatisch wirkender Form –
gleichfalls existiert und für die davon Betroffenen hier sogar beschämender, demütigender und
erniedrigender sein kann.
Gleich drei Mal wird im Koalitionsvertrag das Wort „Armutswanderung“ bzw. „Armutsmigration“
verwendet. Gemeint waren Bulgaren und Rumänen, denen man eine „ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen“ vorwarf, wodurch deutsche Kommunen übermäßig belastet
würden. Kurzum: Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, gibt es in
Deutschland überhaupt keine Armut, es sei denn, dass sie durch unerwünschte Zuwanderer „importiert“
wird. Die wachsende Armut wird jedoch weder von Arbeitsmigranten aus EU-Ländern
noch von Flüchtlingen aus der sog. Dritten Welt eingeschleppt, sondern ist hausgemacht, d.h.
durch eine Bundesregierung mit bedingt, die Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung betreibt.
Nötig sind mehr Sensibilität gegenüber der Armut, die als Kardinalproblem unserer Wirtschaftsbzw.
Gesellschaftsordnung erkannt werden muss, mehr Solidarität mit den davon Betroffenen,
was die Rekonstruktion des Sozialstaates genauso einschließt wie eine andere Steuerpolitik
zwecks seiner Finanzierung durch Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche, aber auch eine höhere
Sozialmoral, die bis in die Mittelschicht hineinreichende Deprivations- bzw. Desintegrationstendenzen
als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift. Es bedarf einschneidender
Reformen und entschlossener Umverteilungsmaßnahmen, um das Problem zu lösen. Dafür unerlässlich
ist ein Paradigmenwechsel vom „schlanken“ zum interventionsfähigen und -bereiten
Wohlfahrtsstaat.
Meine politische Position: Wo und wofür ich stehe
Da die Spitzenpolitiker der etablierten Parteien gemeinsam die Mitte zu besetzen suchen, fühlen
sich immer größere Bevölkerungsgruppen politisch nicht mehr repräsentiert. Rechtspopulisten
können sich daher als Sprachrohr der sozial Benachteiligten, Abgehängten und Ausgegrenzten
profilieren, obwohl sie ausweislich ihrer Programmatik die Interessen der wirtschaftlich Mächtigen,
gesellschaftlich Privilegierten und politisch Einflussreichen vertreten.
Ich sehe mich als unermüdlichen Mahner und Warner, der die politisch Verantwortlichen seit
Jahrzehnten auf das auch sozialräumliche Auseinanderfallen der Gesellschaft hinweist, als soziales
Gewissen wirkt und mehr Solidarität innerhalb der Gesellschaft fordert. Mein zentrales Motto
bilden Solidarität und soziale Gerechtigkeit, denn die von Bundespräsident Joachim Gauck aus
biografischen Gründen besonders herausgehobene Freiheit kann nur gelebt werden, wenn man
über die zu ihrer Nutzung erforderliche materielle Sicherheit verfügt, sei es aufgrund von Kapitalbesitz,
Erwerbstätigkeit oder staatlichen Transfers. Genauso wichtig ist die Abwehr von Gewalt
und Krieg, was Willy Brandt mit den Worten „Ohne Frieden ist alles nichts“ ausgedrückt hat.
Ich stehe für einen inklusiven Sozialstaat, der alle Bevölkerungsgruppen bestmöglich vor Standardlebensrisiken schützt, Armut wirksam bekämpft und durch Umverteilung von oben nach unten
für sozialen Ausgleich sorgt, und bin im besten Sinne der Verteidigung von Bürgerrechten liberal
und im Sinne der Verteidigung sozialer Errungenschaften konservativ, fühle mich aber
gleichwohl als „ideeller Gesamtlinker“, der auch sozialdemokratische Programmtraditionen verkörpert
und seit Jahrzehnten ökologische Zielsetzungen verfolgt. Außerdem halte ich außerparlamentarische Bewegungen wie die Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung, das globalisierungskritische
Netzwerk attac, dessen wissenschaftlichem Beirat ich angehöre, den Bürgerprotest
gegen Stuttgart 21, Occupy oder die jüngsten Massenproteste gegen CETA, TTIP und TiSA als
einen lebendigen Ausdruck der Demokratie für unverzichtbar.
Seit der jüngsten Krise wird immer mehr Menschen klar, dass Banken, Spekulanten und Wirtschaftslobbyisten im globalen Finanzmarktkapitalismus zu viel Einfluss auf die Regierungspolitik
haben. Daher plädiere ich auch für mehr plebiszitäre Elemente (Referenden, Bürgerbegehren,
Bürgerentscheide) in der Bundesrepublik. Demokratie ist mehr, als alle vier oder fünf Jahre zu
einer Wahlurne zu gehen. Sie zu beleben ist viel zu wichtig, um sie auf staatliche Institutionen zu
beschränken und den Parteien zu überlassen. Themen wie „Finanzkrise, Staatsschulden und Euro-
Stabilisierung“, „Sozialstaatsentwicklung und Armut“, „Sicherung von Bürgerrechten und Demokratie“,
sowie „Klimaschutz und Gewährleistung der Energieversorgung“ verlangen ein viel
stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement der Bürger/innen.
Die Demokratie ist nicht bloß durch die Macht der Finanzmarktakteure, sondern auch durch politische
Apathie und die wachsende „Parteienverdrossenheit“ der Bürger/innen gefährdet. „Politikverdrossenheit“ ist allerdings genauso wie „Wahlmüdigkeit“ ein irreführender Begriff, um die
Reaktion der Betroffenen zu charakterisieren. Auch er schiebt die Schuld den angeblich davon
Befallenen zu, statt sie im politischen, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu suchen. Tatsächlich
handelt es sich um eine politische Repräsentationskrise, was daraus hervorgeht, dass die zunehmende
Wahlabstinenz sich nicht gleichmäßig über alle Schichten verteilt, sondern vorwiegend
die Konsequenz einer randständigen bzw. prekären Existenz ist.
Vergleichbares gilt, wenn ethnischen, kulturellen oder religiösen Minderheiten demokratische
Rechte vorenthalten oder ihre Angehörigen von Neonazis ermordet werden. Noch gefährlicher
für die Demokratie sind rechtspopulistische Gruppierungen wie die „Alternative für Deutschland“
(AfD) oder die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida). Aber auch entsprechenden Stimmungen, Strömungen und Bestrebungen
in der bürgerlichen Mitte gebührt Aufmerksam- und Wachsamkeit aller Demokrat(inn)en, wie die
Sarrazin-Debatte zur Genüge unter Beweis gestellt hat.
Möglichkeiten zur Schaffung einer sozialen und inklusiven Gesellschaft
Linke Gesellschaftskritik ist bitter nötig, denn die Frage lautet: Wollen wir in einer Konkurrenzgesellschaft leben, die Leistungsdruck und Arbeitshetze weiter erhöht, die Erwerbs- und Wohnungslose, Alte, Menschen mit Behinderungen und andere Minderheiten ausgrenzt sowie Egoismus,
Durchsetzungsfähigkeit und Rücksichtslosigkeit honoriert, sich jedoch über den Verfall von
Sitte, Anstand und Moral wundert? Oder wollen wir in einer sozialen Bürgergesellschaft leben,
die Kooperation statt Konkurrenzverhalten, die Verantwortungsbewusstsein, Mitmenschlichkeit
und Respekt gegenüber Minderheiten statt Gleichgültigkeit und Elitebewusstsein fördert? Ist ein
permanenter Wettkampf auf allen Ebenen und in allen Bereichen, zwischen Bürger(inne)n,
Kommunen, Regionen und Staaten, bei dem die (sicher ohnehin relative) Steuergerechtigkeit genauso
auf der Strecke bleibt wie ein hoher Sozial- und Umweltstandard, wirklich anzustreben?
Eignet sich der Markt tatsächlich als gesamtgesellschaftlicher Regelungsmechanismus, obwohl er
auf seinem ureigenen Terrain, der Volkswirtschaft, ausweislich einer sich trotz des Konjunkturaufschwungs verfestigenden Massenerwerbslosigkeit, kläglich versagt?
Die momentane Rechtsentwicklung unserer Gesellschaft ist eine verhängnisvolle Nebenwirkung
der neoliberalen Wende, die Margaret Thatcher und Ronald Reagan nach ihrer Wahl zur britischen
Premierministerin bzw. zum US-Präsidenten gegen Ende der 1970er-/Anfang der 1980er-
Jahre eingeleitet haben und die beendet werden muss. Dafür ist ein „Ruck“ (Roman Herzog) nötig,
aber in die entgegengesetzte Richtung, wie sie der Altbundespräsident seinerzeit einschlug:
Auf das Zeitalter der neoliberalen Austerität sowie der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und
Reich muss heute eine Epoche der größeren sozialen Gleichheit und der Solidarität mit Armen
und Benachteiligten folgen. Dadurch würde die Gesellschaft humaner, friedlicher und demokratischer,
sich aber auch die Lebensqualität für all ihre Mitglieder verbessern.
Seit der „Agenda 2010“ und den sog. Hartz-Gesetzen herrscht soziale Eiseskälte in Deutschland.
„Hartzer“ werden durch ein rigides Arbeitsmarkt- und Armutsregime ausgegrenzt, von großen
Teilen der Bevölkerung verachtet und als „Drückeberger“, „Faulenzer“ und „Sozialschmarotzer“
verächtlich gemacht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist durch die neoliberalen Reformen
nachhaltig geschwächt worden. Wer ihn wieder stärken möchte und nicht bloß warme Worte für
die Menschen auf der Schattenseite unserer Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft übrighat,
muss die jahrzehntelange Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten
beenden und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen. Dazu sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer,
eine höhere Körperschaftsteuer, eine auch große Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progessiverer Einkommensteuertarif
mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen Steuersatz basierende
Kapitalertragsteuer nötig. Umgekehrt sollte die Mehrwertsteuer, von der Geringverdiener/innen
und Transferleistungsbezieher/innen besonders hart getroffen werden, weil diese fast ihr gesamtes
Einkommen in den Alltagskonsum stecken (müssen), niedriger sein.
Wenn man Inklusion nicht bloß als (sozial)pädagogisches Prinzip, sondern auch – in sehr viel
umfassenderem Sinne – als gesellschaftspolitisches Leitbild begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat,
der eine gleichberechtigte Partizipation aller Gesellschaftsmitglieder bzw. Wohnbürger/
innen am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben
ermöglicht, das Ziel sein. Statt eines „Um-“ bzw. Ab- oder Rückbaus des Wohlfahrtsstaates, wie
ihn seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 sämtliche Bundesregierungen betreiben, wäre ein Ausbau
des bestehenden Systems zu einer Sozialversicherung aller Bürger/innen nötig. Dabei geht es
im Unterschied zu einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht um einen Systemwechsel,
sondern um eine genau durchdachte Weiterentwicklung des Bismarck‘schen Sozialsystems, verbunden
mit innovativen Lösungen für Problemlagen, die aus den sich stark wandelnden Arbeitsund
Lebensbedingungen (Stichworte: Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Liberalisierung der
Leiharbeit, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse,
Auflösung der Normalfamilie sowie Pluralisierung der Lebens- und Liebesformen) resultieren.
An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer- muss eine allgemeine, einheitliche und solidarische
Bürgerversicherung treten. Allgemein zu sein heißt, dass sie im Sinne einer Bürgersozialversicherung
sämtliche dafür geeigneten Versicherungszweige übergreift: Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung
müssten gemeinsam und nach denselben Organisationsprinzipien restrukturiert
werden. Selbst aus rein taktischen Erwägungen ist es nicht sinnvoll, die öffentliche Debatte über
eine Bürgerversicherung auf einen Versicherungszweig zu beschränken, wie es viele Befürworter/
innen dieser Reformoption tun. Hingegen stellt die Gesetzliche Unfallversicherung insofern einen
Sonderfall dar, als sie sich nur aus Beiträgen der Arbeitgeber (und staatlichen Zuschüssen) speist.
Einheitlich zu sein heißt in diesem Zusammenhang, dass neben der gesetzlichen Bürgerversicherung
keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren. Private Versicherungsunternehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge (Bestandsschutz), mögliche Ergänzungsleistungen und Zusatzangebote beschränken. Damit bliebe auch nach der Gesundheitsreform
neuen Typs ein weites Betätigungsfeld für die Privatassekuranz erhalten; ihre Existenz
wäre also nicht gefährdet.
Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich
Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern
auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse) wären
Beiträge zu erheben. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies nicht, dass
Arbeitgeberbeiträge entfallen würden.
Nach oben darf es im Grunde weder eine Versicherungspflichtgrenze noch Beitragsbemessungsgrenzen
geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme
auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte (ganz oder teilweise) zu
entziehen. Hinsichtlich der Beitragsbemessungsgrenzen stünde zumindest eine deutliche Erhöhung
an. Umgekehrt müssen jene Personen finanziell aufgefangen werden, die den nach der Einkommenshöhe
gestaffelten Beitrag nicht entrichten können. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche
Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat quasi als Ausfallbürge für Landwirte, Unfall-, Zivilschutz-
und Katastrophenhelfer/innen sowie Blut- und Organspender/innen, aber auch für Kinder
in Tagesbetreuung, Schüler/innen und Studierende.
Bürgerversicherung heißt, dass alle Personen aufgenommen werden, und zwar unabhängig davon,
ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen
wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister
noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Einerseits geht es
darum, die Finanzierungsbasis des bestehenden Sozialsystems zu verbreitern, andererseits darum,
den Kreis seiner Mitglieder zu erweitern. Denn ihre wichtigste Rechtfertigung erfährt die Bürgerversicherung dadurch, dass sie den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte Wohnbevölkerung einbeziehenden, Solidarität im umfassendsten Sinn garantierenden Sicherungssystem verwirklicht.
Bürgerversicherung zu sein bedeutet schließlich, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt,
also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Natürlich muss sich
der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau einer Bürgerversicherung beteiligen. Auf die
öffentlichen Haushalte kämen dadurch erhebliche finanzielle Belastungen zu, die mit Hilfe einer
sozial gerechteren, sich stärker an der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bürger/innen orientierenden Steuer- und Finanzpolitik leichter zu tragen wären.
Eine solidarische Bürgerversicherung bedeutet keinen Systemwechsel. Vielmehr verschwände
der Widerspruch, dass sich fast nur abhängig Beschäftigte im sozialen Sicherungssystem befinden
und auch nur bis zu einem Monatseinkommen von höchstens 6.200 Euro in Westdeutschland
und 5.400 Euro in Ostdeutschland (2016). Über diese Bemessungsgrenze hinaus entrichten Versicherte
(und ihre Arbeitgeber) überhaupt keine Beiträge zur Sozialversicherung. Die Gesetzliche
Kranken- und die Soziale Pflegeversicherung können sie bei Überschreiten der weit niedrigeren
Versicherungspflicht- bzw. -fluchtgrenze sogar verlassen. Warum muss die Solidarität bei Löhnen
und Gehältern in dieser Höhe enden?
Mit dieser systemwidrigen Begrenzung der Solidarität auf Normal- und Schlechterverdienende
muss die Bürgerversicherung brechen. Wohl das schlagendste Argument für die Bürgerversicherung
liefert ihr hohes Maß an Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich. Durch die Berücksichtigung
anderer Einkunftsarten würde der Tatsache endlich Rechnung getragen, dass Arbeitseinkommen
für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr die einzige und häufig nicht mehr die wichtigste
Lebensgrundlage bilden. Daraus ergibt sich die Frage, warum der riesige private Reichtum nicht
stärker an der Finanzierung des sozialen Sicherungssystems beteiligt werden sollte.
Mittels der allgemeinen, einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung würden die Nachteile
des deutschen Sozial(versicherungs)staates kompensiert, ohne dass seine spezifischen Vorzüge
liquidiert werden müssten. Eine soziale Bürgergesellschaft bindet die Teilhabe ihrer Mitglieder an
soziokulturelle und materielle Mindeststandards, deren Gewährleistung dem Wohlfahrtsstaat obliegt.
Auf diese Weise würden soziale Sicherheit und Verteilungsgerechtigkeit gleichermaßen zum
konstitutiven Bestandteil einer Form der Demokratie, die mehr beinhaltet als den regelmäßigen
Gang zur Wahlurne, das leidliche Funktionieren des Parlaments und die Existenz einer unabhängigen
Justiz.
Auf der Leistungsseite muss die Bürgerversicherung das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung
beseitigen. Hierzu ist eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Mindestsicherung
nötig, die alle Wohnbürger/innen nach unten absichert, auch solche, die im bisherigen System
keine oder unzureichende Anwartschaften erworben haben.
SPD, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen orientieren im Gesundheitsbereich auf eine Bürgerversicherung.
Diese könnte – so unterschiedlich die konkreten Vorstellungen hierzu auch
(noch) sind – eine programmatische Basis, wenn nicht eine politische Brücke für ein fortschrittliches
Bündnis oder eine R2G-Koalition nach der nächsten Bundestagswahl bilden. Aber wer auch
immer die Regierung bildet: Die solidarische Bürgerversicherung und andere Projekte einer sozialen,
humanen und demokratischen Fortentwicklung unserer Gesellschaft sind nur realisierbar,
wenn eine breite Bürgerbewegung außerparlamentarischen Druck macht. Sonst setzen sich am
Ende doch wieder mächtige Lobbygruppen durch.
Person, Forschungsschwerpunkte und Publikationen
Prof. Dr. Christoph Butterwegge, geb. 1951, Dipl.-Sozialwissenschaftler. Ich war von Januar
1998 bis Juli 2016 Hochschullehrer für Politikwissenschaft, Mitglied der Forschungsstelle für
interkulturelle Studien (FiSt) und zeitweilig Geschäftsführender Direktor des Instituts für vergleichende
Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln.
1970 in die SPD eingetreten, wurde ich als Juso-Funktionär 1974/75 wegen eines in den Blättern
für deutsche und internationale Politik veröffentlichten Artikels mit dem Titel „Die rechte Herausforderung“
aus der SPD ausgeschlossen. Während der 1980er-Jahre wieder aufgenommen und
in der Landesorganisation Bremen aktiv, trat ich 2005 wegen Gerhard Schröders „Agenda 2010“,
der Hartz-Gesetze und der Bildung einer Großen Koalition unter Angela Merkel (trotz einer rotrot-
grünen Bundestagsmehrheit) aus der SPD aus. Diese hatte sich während der rot-grünen Koalition
so weit von ihren ursprünglichen Idealen (soziale Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität)
entfernt, dass ich keine Basis für eine Mitarbeit mehr sah. Seither gehöre ich keiner Partei an,
stimme aber häufiger mit Positionen der LINKEN überein.
Forschungsschwerpunkte: Friedensforschung und Rüstungskonversion; Sozialstaatsentwicklung
und Armut; Rechtsextremismus, -populismus und Rassismus; Migration und Integration; Globali!sierung und Neoliberalismus; demografischer Wandel. Meine letzten Buchveröffentlichungen:
„Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung“ (mit Gerd Bosbach und
Matthias W. Birkwald), Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 2012; „Krise und Zukunft
des Sozialstaates“, 5. Aufl. Wiesbaden: Springer VS 2014; „Hartz IV und die Folgen. Auf dem
Weg in eine andere Republik?“, 2. Aufl. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2015; „Armut in einem
reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird“, 4. Aufl. Frankfurt am Main/
New: Campus 2016; „Kritik des Neoliberalismus“ (mit Bettina Lösch und Ralf Ptak), 3. Aufl.
Wiesbaden: Springer VS 2016; „Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und
steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition“, Wiesbaden: Springer VS 2016; „Armut“,
Köln: PapyRossa Verlag 2016