Rechtsextreme Chatgruppen – Einzelfälle oder ein strukturelles Problem der Polizei? Spitze des Eisbergs
Hitlergruß, antisemitische Videos und Reichsbürgersymbole: Polizeibeamte in Deutschland sind in den vergangenen fünf Jahren in mindestens 170 Fällen mit rassistischem und rechtsextremem Gedankengut aufgefallen. So das Ergebnis eine Umfrage des Tagesspiegel in den Innenministerien und Polizeipräsidien der 16 Bundesländer.[1]
In NRW sind in jüngerer Zeit fünf rechtsextreme Chatgruppen aufgeflogen. Zu einem »braunen Hotspot« hat sich das Polizeipräsidium in der Ruhrpott-Metropole Essen entwickelt. Jahrelang sollen 29 Polizisten über ihre Handys neonazistische Inhalte ausgetauscht haben: Bilder von Adolf Hitler und Hakenkreuze, sie belustigten sich über die fiktive Darstellung der Ermordung eines Flüchtlings in einer Gaskammer und die Erschießung von Menschen mit schwarzer Hautfarbe. Mindestens 126 Bilddateien mit strafrechtlicher Relevanz wurden konfisziert.
»Wir reden hier von übelster und widerwärtigster neonazistischer, rassistischer und flüchtlingsfeindlicher Hetze«, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Der Law-and-Order-Hardliner hat sich bei diesem Thema bisher nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Nicht nur, dass er den vielfachen Ruf nach einer unabhängigen Studie zum Rechtsextremismus in der Polizei bis auf den heutigen Tag ignoriert. Er selbst bedient das Klischee der »kriminellen Migranten«. Und als die SPD-Vorsitzende Saskia Esken im Juni in einem Interview mit den Zeitungen der Funke Mediengruppe erklärte, »auch in Deutschland gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte, die durch Maßnahmen der Inneren Führung erkannt und bekämpft werden müssen«, verteidigte Reul die Polizei »gegen jede pauschale Kritik«. Wie auch bei seinen Innenminister-Kollegen in den anderen Bundesländern gehörte es zu seiner politischen Linie, solche Skandale als Einzelfälle abzutun.
Dagegen sind für den Polizeiwissenschaftler Rafael Behr die Essener Vorfälle nur ein weiterer Beweis für »ein grundlegendes Rassismus-Problem« innerhalb der Polizei. Schon 2018 wurden in Frankfurt am Main nach und nach rechtsextreme Netzwerke innerhalb der Behörde enttarnt. Fünf Beamte und eine Kollegin, die meisten aus dem 1. Revier in der hessischen Metropole, teilten rechtsextreme Nachrichten in der WhatsApp-Gruppe »Idiotentreff« (ein treffender Begriff für die Beteiligten). Ein Jahr später wurde in München eine Chatgruppe bekannt, in der mehr als 40 aktive und ehemalige Beamte unter anderem antisemitische Nachrichten verbreitet hatten. In Baden-Württemberg wurden im Februar dieses Jahres sieben Polizeischüler suspendiert, die über einen Messenger nationalsozialistische, antisemitische und frauenfeindliche Äußerungen austauschten. Und nur zwei Tage nach Bekanntwerden der Fälle im Ruhrgebiet wurden Ermittlungen gegen 17 Beamte aus Mecklenburg-Vorpommern bekannt, die ebenfalls eine rechte Chatgruppe gebildet hatten.
Damit nicht genug: Beängstigend sind gleichermaßen die Vorgänge um Datenabfragen aus Polizeicomputern und die Nutzung dieser Daten, um Menschen zu bedrohen. Im August 2018 erhielt die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız den ersten Drohbrief, der mit NSU 2.0 unterschrieben war. Darin hieß es: »Dieses kostenlose Fax wurde Ihnen von Uwe Böhnhardt geschickt.« Böhnhardt war einer der rechtsextremen Täter des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), die zehn Menschen ermordet haben. Das Schreiben enthielt Hinweise auf ihre geheim gehaltene Privatadresse. Wie sich herausstellte, wurde ihre Adresse an einem Frankfurter Polizeicomputer abgerufen.[2]
Seither wurden weitere solcher Drohbriefe, die anonym mit NSU 2.0 unterzeichnet waren, an Politiker*innen der Linken, Künstler*innen und Journalist*innen – mehrheitlich Frauen –versandt. Die dafür nötigen Informationen kamen offenbar aus Polizeidienststellen in Hamburg und Berlin. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Rechtsextremisten die Strukturen der Sicherheitsbehörden systematisch für ihre Zwecke nutzen.
Diese rechtsextremen Aktivitäten in Polizeikreisen zeigen, wie sehr demokratische Institutionen mittlerweile von innen ausgehöhlt sind. Und dies durch Beamte, die einen Amtseid darauf abgelegt haben, das Grundgesetz zu schützen. Ihre Gesinnung, die immer wieder zu polizeiinternen Ermittlungen führt, richtet sich klar gegen Menschen mit anderer Hautfarbe, anderer Herkunft. Das wird auch durch Polizeibeamte unterstrichen, die als Mandatsträger der nationalistisch-völkischen AfD in Landtagen und im Bundestag sitzen.
Der Politikwissenschaftler Hajo Funke sieht darin ein »strukturelles Problem«. Es gebe innerhalb von staatlichen Institutionen rechte Netzwerke, Sicherheitsbehörden ließen es »systematisch zu, dass sich solche Tendenzen ausbreiten«.[3] Gegen solche Einschätzungen läuft die Gewerkschaft der Polizei (GdP) Sturm: »Wir haben in der deutschen Polizei keinen strukturellen Rassismus«, erklärte der stellvertretende Vorsitzende Jörg Radek. Wenn es rassistische oder rechtsextreme Vorfälle gebe, dann seien das Einzelfälle.[4] Dieses Dogma hat bisher jede ernsthafte Aufklärung über Struktur und Ausmaß von Rassismus und Rechtsextremismus in den Reihen der deutschen Polizei scheitern lassen. Die Taktik der Verharmlosung, aber auch das von konservativen Politikern geschaffene »Klima der Unangreifbarkeit« der Sicherheitsbehörden schaffen den idealen Boden, auf dem rechtes Gedankengut gedeihen kann.
Für Rafael Behr steht fest, dass die »Cop Culture«, d.h. der ausgeprägte »Corpsgeist« innerhalb der Polizei, verhindere, dass Polizisten Zivilcourage zeigen, wenn sie merken, dass Kollegen rechtsextremes Gedankengut verbreiten. Es mangle an einer Struktur, die über Rassismus aufklärt und dessen Ausbreitung verhindert – ein Whistleblower-System oder unabhängige Vertrauenspersonen. Auch der Bochumer Professor Tobias Singelnstein sagt: »Man kann sich ja nicht vorstellen, dass so ein Netzwerk innerhalb der Polizei niemandem aufgefallen ist.« Deshalb fordert auch er ein anonymes Meldeverfahren für interne Missstände bei der Polizei.
Die bisher bekannt gewordenen braunen Umtriebe in den Sicherheitsbehörden sind wohl nur die Spitze des Eisbergs. Bislang gib es jedoch keine Statistik darüber, wie breit rechtsextremistische Ansichten unter Polizisten tatsächlich verbreitet sind. Nach Untersuchungen aus den 1990er Jahren neigten zwischen fünf und 20% der Polizisten zu rechtsextremistischem Gedankengut. »Wir brauchen dringend neue Studien«, so Tobias Singelnstein (DW, 16.9.2020). Doch dieser Mangel wird so schnell wohl nicht behoben werden. Auch nach der Enttarnung rechtsextremer Netzwerke in der nordrhein-westfälischen Polizei blockiert Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) weiterhin eine Studie über rechtsextreme Einstellungen bei den Beamten. »Ich erkenne weder im öffentlichen Dienst noch bei der Bundespolizei diesbezüglich ein strukturelles Problem.«
Anders als Seehofer hatte Sebastian Fiedler, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), sich bereits im September 2019 für eine solche Erhebung stark gemacht und diese wiederholt eingefordert. Auch eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung sieht die Notwendigkeit, eine empirische Erhebung über Rassismus innerhalb der Polizei durchzuführen.[5] Doch deren Absage wird inzwischen in Kreisen der Sicherheitspolitiker im Bundestag zu einem Akt der »Solidarität« mit der Polizei hochstilisiert. Wer eine solche Studie fordert, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, die Polizei unter Generalverdacht stellen zu wollen.
Wieder heißt es: »Wir werden das Aufarbeiten, radikal und bis ins kleinste Detail«. Wieder werden »knallharte Konsequenzen« angekündigt. Doch auch dieses Mal deutet alles darauf hin, dass die Dimensionen des rechtsextremen Sumpfes nicht ernst genommen werden. Dort, wo es keine Empathie für diejenigen gibt, die unter den rechtsextremen Verstrickungen der Polizei leiden müssen – für Geflüchtete, migrantische Deutsche, People of Color, Gegner des Rechtsextremismus –, besteht auch kein Interesse an ernsthafter Aufklärung.
Fakt ist: Sollte sich wirklich etwas ändern, darf die Polizei sich nicht mehr selbst kontrollieren. Transparenz und kritischer Austausch müssen gefördert werden, statt zu mauern. Um die »Cop Culture« zu durchbrechen, bedarf es unabhängiger Beschwerdestellen für Interne und Externe. Die rechtsextremen Strukturen lassen sich auflösen, wenn man es denn wirklich will.
Anmerkungen
[1] Die Gesamtzahl von 170 Vorfällen ist nach aktuellem Stand eine Mindestgröße. 30 Verdachtsfälle gab es in Bayern, 26 in Schleswig- Holstein, 21 in Nordrhein-Westfalen, jeweils 18 in Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern. Auch in Berlin gab es Vorfälle, nach denen Strafverfahren eingeleitet wurden. Genauere Angaben machte das Polizeipräsidium zunächst nicht. In Hamburg registrierte die Polizei fünf Straftaten in den vergangenen fünf Jahren. Die geringsten Fallzahlen stammen aus Brandenburg (zwei) und dem Saarland (einer). In Bremen soll es keinen Fall gegeben haben. Die sächsische Polizei hatte eine Liste von 16 Vorfällen, aus der hervorgeht, dass Polizisten teils demokratiefeindliche Äußerungen in sozialen Netzwerken gepostet haben. Einige Behörden konnten Daten nur zum Teil erheben oder machten nur lückenhafte Angaben (Tagessiegel, 8.9.2020).
[2] Siehe auch: Otto König/Richard Detje: Rechtsextreme Netzwerke in Polizei und Bundeswehr – NSU 2.0, Sozialismus.de Aktuell, 27.12.2018.
[3] Siehe: hajofunke.wordpress.com
[4] Die im DGB organisierte und als relativ liberal geltende Gewerkschaft der Polizei (GdP) konkurriert mit der stramm rechten Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) um Mitglieder. Die GdP ist mittlerweile jedoch selbst nach rechts gerückt. Während weltweit über rassistische Tötungsdelikte US-amerikanischer Polizisten diskutiert wurde, machte die Juli-Ausgabe des Mitgliedermagazins DP mit der Schlagzeile »Linksextremismus. Brutal. Zynisch. Arrogant«, illustriert mit einem brennenden Molotowcocktail, auf. »Sie nennen sich zwar Antifaschisten, sind jedoch lediglich Kriminelle«, schreibt Dorothee Dienstbühl, Professorin für Kriminologie und Soziologie an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Nordrhein-Westfalen, in der Zeitschrift. In einem Kommentar thematisiert der niedersächsische GdP-Landesvorsitzende Dietmar Schilff einleitend die »Black Lives Matter«-Demonstrationen in Deutschland sowie Rassismusvorwürfe und weitere Kritik an der Polizei. Ein Problem mit rassistischer Polizeigewalt erkennt er zwar in den USA, doch eine kritische Perspektive auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik fehlt.
[5] Fast 55% der Deutschen halten eine Studie zu Rassismus innerhalb der Polizei für notwendig, so das Ergebnis einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey. Rund 39% der Befragten beantworteten die Frage mit »Nein, auf keinen Fall« oder »Eher nein«. In fast allen Altersgruppen überwiegen die Befürworter einer Rassismus-Studie. In der Gruppe über 65 Jahren und bei den 18- bis 29-Jährigen sind die Unterstützer einer solchen Untersuchung am stärksten vertreten (Spiegel.de, 22.9.2020).
7. Oktober 2020 Otto König/Richard Detje, aus: sozialismus