Rede der Fraktion Gießener Linke zum Haushalt des LK 2021
Dies ist nicht eine Haushaltsdebatte wie üblich. Sie findet nicht nur während der größten Gesundheits- und Gesellschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg statt, sondern auch mitten in der sich weiterentwickelnden Klimakrise, die trotz Corona-Delle beim Co2-Ausstoß erste Hinweise auf das gibt, was auf die Menschheit in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zukommt. Und außerdem findet sie am Ende einer Legislaturperiode statt. (Ich gebe zu, gemessen an den angesprochenen Problemen ein eher marginales Ereignis.)
Trotzdem will ich damit beginnen. Eine Koalition, die mit großen Ambitionen angetreten ist, verdient es, dass ihre Arbeit und was noch viel wichtiger ist, die gesellschaftlichen Wirkungen ihrer Politik kritisch gewürdigt werden.
Beginnen wir mit dem Positiven:
- Die Koalition und der KA haben die große Zuwanderung der Jahre 15/16 engagiert, mit großem Einsatz und geeigneten Maßnahmen sehr gut bewältigt.
- Es wurden wichtige, gute Maßnahmen zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus auf den Weg gebracht und fortgeschrieben.
- Die Finanzierung und Unterstützung zahlreicher sozialer, kultureller und in Pflege und Gesundheit engagierter Projekte und Initiativen.
- Wie versprochen wurden die Reinigungs- und Hausmeisterdienste rekommunalisiert.
- Insgesamt hat sich die politische Kultur in den Gremien hinsichtlich Transparenz, Information und Einbeziehung deutlich verbessert.
- Richtig und wichtig war auch, dass die Investitionen unabhängig von Ergebnishaushalten beständig fortgeführt wurden.
- Natürlich gibt es viele weitere Initiativen, die wir hier aber jetzt nicht im Einzelnen würdigen können.
Begann die Koalition in den ersten fünf Jahren mit sehr hohen Defiziten in den Ergebnishaushalten, so hat sich diese Entwicklung ins Gegenteil verkehrt. In den letzten fünf Jahren waren die Überschüsse ähnlich imposant. Hat die Koalition diese mit dem Blick auf die kommenden Jahre (da erwarten wir ja alle drastische Sparmaßnahmen) wohl außerordentlichen Spielräume genutzt? Wir meinen, da wäre mehr drin gewesen!
Auf der Negativseite bleibt eine nun seit Jahren anhaltende Unterfinanzierung für die Empfängerinnen von Kosten der Unterkunft, die nach einem „schlüssigen“ Konzept berechnet wird, das weder schlüssig noch hinreichend. Wir haben mit Anträgen gezeigt, dass nach den Zahlen des Jobcenters jährlich ca. 2000 Haushalte ihre Miete nur zahlen können, indem sie auf Zuzahlungen aus den HLU zugreifen müssen, was ihre finanzielle Lage existenziell gefährdet.
Auch Bürgerbeteiligung war für die Koalition eher eine Äußerliche, formale Angelegenheit, die eher lästig und immer nur stattfand, wenn sie gefordert wurde. Zuletzt beim Radwegekonzept. Das verweist nach unserer Meinung darauf, dass von vielen hier im KT Politik als Stellvertreterpolitik verstanden wird, für die Mitwirkung der B und B eher ein notwendiges Übel ist.
Sehr verehrte Damen und Herren!
Die gegenwärtige Pandemie hat uns wie in einem Zeitraffer einen Eindruck von dem vermittelt, was uns in den kommenden Jahren und Jahrzehnten als Folge der Klimaerwärmung ereilen wird: Zunehmende Trockenheit, Starkregen, Feinstaub- und Stickstoffbelastung, Wasser- und Nahrungsmangel, drastisch anwachsende Flucht und Migration, Erhitzung der Städte und versinkende Landschaften werden Lockdowns und Shutdowns, die Überbeanspruchung des Gesundheitswesens und steigende Übersterblichkeit zu bleibenden, alltäglichen Erscheinungen künftiger Generationen machen.
Wir werden uns wohl zunehmend, was die gesellschaftlichen Institutionen angeht, wohl auf autoritäre, administrative Formen der Machtausübung einstellen müssen.
Es gibt allerdings einen großen Unterschied: Pandemien enden nach Jahren – mit oder ohne Impfstoff. Die Folgen der Klimaveränderungen werden dagegen – sind einmal bestimmte Kipppunkte überschritten, ähnlich wie die Halbwertzeit atomaren Abfalls – Jahrhunderte oder länger ihre Wirkung entfalten, einzelne Veränderungen sind womöglich sogar irreversibel.
Diese Zukunft hat aber schon begonnen. Zwar sind von der verheerenden Entwicklung gegenwärtig vor allem die Menschen im globalen Süden betroffen. Sie leiden als Erste und am meisten an den Folgen der von uns verursachten Treibhauseintrags. Aber auch das ändert sich jetzt: In der FAZ vom Nikolaustag war unter der Überschrift „Deutschland kollabiert an der Klimafront“ ein Bericht von einer Tagung (Lancet Countdown) von 120 Wissenschaftlerinnen und Experten aus weltweit 35 Institutionen zu lesen, in dem es heißt: „In den beiden zurückliegenden Jahrzehnten hat die Zahl der Hitzetoten um 54 Prozent zugenommen. Staaten mit besonders vielen über 65-jahrigen hat es besonders hart getroffen … Und Deutschland lag zuletzt mit ermittelten 20.200 Hitzetoten weltweit an dritter Stelle.“ Und dann liest man weiter: „Kein Land hat dem Bericht zufolge an die Hitze der letzten Jahre mehr von seinem Bruttoinlandsprodukt verloren als Deutschland: Die Kosten entsprechen dem jährlichen Durchschnittseinkommen von 1,75 Millionen Bürgern.“ (FAZ, 6.12.20)
Noch nehmen viele von uns das nicht ernst. So wie auch in der Corona-Pandemie hierzulande immer erst gehandelt wird, wenn es unausweichlich ist. Wir wissen aber alle, dass nur noch ein kleines Zeitfenster bleibt, um mildernd, bremsend auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen. Aus unserer Sicht ist dies deshalb die wichtigste politische Aufgabe. Was also wurde getan um heute, jetzt, wirksam zu werden?
Betrachten wir die Umwelt- und Klimapolitik des LK unter dieser Fragestellung, so ist das Ergebnis desaströs.
Betrachten wir die Fakten gibt es keinen einzigen Parameter – ob Flächenverbrauch, CO2-Belastung, Autoverkehr, Waldzustand – bei denen es im LK auch nur zu einem Stopp, geschweige denn einer Umkehr der Entwicklung gekommen wäre. Selbst der Energieverbrauch nimmt seit Jahren wieder gegenüber den 00er-Jahren zu. Und über den Nitrat- und Chemieeintrag in der Landwirtschaft liegen keine Zahlen vor.
Es fehlt zwar nicht an wohlfeilen Konzepten und gutgemeinten Zielen, aber an wirksamer Politik, an politischen Initiativen, die dazu beitragen, gesellschaftliche Prozesse auszulösen. Klimapolitik findet nicht auf dem Papier statt und darf sich auch nicht auf zwar nützliche, aber für die heutige Lage nur bedingt wirksame Leuchtturmprojekte beschränken, die vom Land, Bund oder RMV finanziert werden und mit denen dann immer mediale Aufmerksamkeit gesucht wird.
Bei vielen der formulierten Ziele und Aufgaben – wie sie auch dem uns jetzt zugegangen Papier (Klimastrategie) zu entnehmen sind – gibt es für den LK praktisch keine Möglichkeiten politischer Umsetzung. Deswegen ist auch das Scheitern der energiepolitischen Ziele des LK nicht ihm anzulasten. Wir haben immer darauf verwiesen, dass in der Verkehrspolitik die effektivsten Möglichkeiten bestehen, etwas für die Minderung der Klimabelastung zu tun. Zudem ist sie Pflichtaufgabe des LK. Das erwähnte Papier trägt dem insoweit Rechnung, als jetzt „Nachhaltige Mobilität“ an erster Stelle steht.
Aber was wurde getan? Auch diese Bilanz ist desaströs.
- In zehn Jahren wurden genau 350 m Radweg gebaut. Zahlreiche Ortsdurchfahrten wurden ohne jeden Radweg erneuert. In Climbach wurde noch in diesem Jahr nichts bei der Sanierung gemacht, obwohl die Durchfahrt eine Breite hat, die an den altehrwürdigen Boulevard Haussemann in Paris erinnert und ein Radweg von Allendorf bis an den Ortsrand führt und am Ortsausgang auch fortgeführt wird.
Für das Radwegekonzept gingen gut drei Jahre ins Land, jetzt soll ein Jahr überlegt werden, was gemacht werden kann. Frühestens im fünften Jahr wird es dann vielleicht eine Baumaßnahme geben. Der Radwegeplan sieht für die nächsten zehn Jahre 22,2 Mio. notwendige Investitionen vor, also jedes Jahr 2,2 Mio. Der LK startet in diese Phase mit 50.000 € – also praktisch einer Nullrunde.
In das Bild passt die Ablehnung unseres Antrags, 300.000 für den Radewegebau bei den heute beschlossenen Straßenbauinv. Einzustellen. Wovon wollen sie die Radeweg bezahlen?
Diese demonstrative Untätigkeit ist auch deswegen mehr als verwunderlich, weil in Dutzenden von Städten/Regionen, sogar in Gießen, Kommunalpolitiker mit schnellen, unkomplizierten Maßnahmen für Radstreifen, Fahrradstraßen u. ä. gesorgt haben, ohne langwierige Planung und Investitionsanträge.
- Beim ÖPNV sieht es ähnlich aus. Eine interfraktionelle AG hat sich auf zahlreiche Verbesserungen der einzelnen Linien verständigt. Geht die Umsetzung den „üblichen“, gewohnten Weg, dann wird sie sich bis zu zehn Jahre hinziehen. Das ist aus unserer Sicht in keiner Weise akzeptabel. Und es geht auch. Denn so wie es in wenigen Monaten möglich war auf eine Schnellbuslinie von und nach Laubach zu verständigen, ist es natürlich auch möglich nach und nach die einzelnen Linien zu kündigen bzw. neu zu verhandeln. Dazu bedarf es lediglich politischen Willens.
Wir verlangen – wie gezeigt – nichts Unmögliches. Ihre Politik wird den Erfordernissen, die sich aus der Klimapolitik ergeben, nicht gerecht. Sie besteht in einem „Weiter so, wie bisher!“ Sie ist eine Ohrfeige für die zahlreichen Menschen, die mehr verlangen als schöne Worte. Deswegen werden wir dem Haushalt auch in diesem Jahr nicht zustimmen!