Von der Corona- zur Embargokrise? Sanktionswahn im Wirtschaftskrieg
In Kriegszeiten stirbt die überprüfbare Wahrheit zuerst, Nachrichten werden zu Propagandawaffen, die Legitimation sichern sollen. Was genau in dem Kiewer Vorort Butscha geschah, wird irgendwann der Weltöffentlichkeit präsentiert werden. Dann können die Verantwortlichen – hoffentlich – zur Rechenschaft gezogen werden.
Doch im Krieg herrscht eine andere Logik: Da ist der Täter immer der Gegner, dessen Verhalten das eigene Vergehen rechtfertigt. Zwar forderte Bundeskanzler Olaf Scholz »schonungslose Aufklärung« über die »Kriegsverbrechen« in Butscha, doch zeitgleich kündigte er weitere Sanktionen der westlichen Staaten gegen Russland an.
Der Kanzler steht unter Druck. Er und sein Vize, der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck, wissen, dass es keinen sofortigen Stopp der Öl- und Gasimporte aus Russland geben kann. Vorgehalten wird ihnen gleichwohl, dass sie damit den Krieg Moskaus gegen die Ukraine finanzieren würden – so wie dem heutigen Bundespräsidenten und der Ex-Bundeskanzlerin vorgeworfen wird, Russland mit Wirtschaftsbeziehungen erst wieder stark gemacht und der Ukraine eine Aufnahme in die NATO verwehrt zu haben.
Das ist die simple Sicht der Dinge. In der ihm eigenen Lyrik verkündet der ehemalige Bundespräsident Hans-Joachim Gauck: »Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben.«[1] Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen) kündigte an, dass »Strafen« gegen Russland weiter verschärft, und die Unterstützung der Ukraine mit Waffen verstärkt werde.
Frühere Erkenntnisse werden schnell über den Haufen geworfen. Wie die, dass beständig eskalierende Wirtschaftssanktionen meist nicht taugen, eine Änderung der Politik herbeizuführen. Sie bezwecken eine Verhaltensänderung der Herrschenden eines gegnerischen Landes, indem die Bevölkerung bewusst geschädigt wird. Umfassende Sanktionen sind wie Streubomben – sie treffen stets die Falschen. Die Absicht des Westens, Russland ökonomisch zu isolieren, schädigt die Menschen in Russland und schwächt die Entwicklung hierzulande.
Russland ist der mit Abstand wichtigste Öl- und Gaslieferant für Deutschland.[2] In aktuellen Stellungnahmen der Wissenschaftsakademie Leopoldina wird der Anteil des russischen Erdgases an den deutschen Importen jeweils mit mehr als der Hälfte beziffert.
Von der in Deutschland verbrauchten Gasmenge werden knapp 20% zur Stromversorgung sowie für Fernwärme verwendet. Die anderen 80% gehen mit rd 37% in energieintensivere Unternehmen der Industrie, mit rd. 13% in Gewerbe, Handel und Dienstleistungen und zu fast 31% in die Haushalte. Allein diese Zahlen lassen erahnen, wie immens der Effekt eines Einfuhrverbots dieser Rohstoffe aus Russland wäre. Der Stopp russischer Energieimporte brächte die Gefahr einer neuen Wirtschaftskrise in Deutschland mit sich und dies, obwohl die Folgen der Corona-Krise noch nicht überwunden sind.
Zum gesamten deutschen Rohöl-Import, der im Jahr 2021 bei 81 Millionen Tonnen lag, trug Russland 34% bei, gefolgt von den USA mit 12%; Kasachstan, Norwegen und Großbritannien lieferten jeweils 10%. Die übrigen Rohöl-Importe kamen aus 30 weiteren Ländern. Unter Nutzung aller Optionen, einschließlich der konsequenten Senkung des Verbrauchs, würde es bestenfalls möglich sein, »bis Mitte 2024 weitgehend unabhängig von russischem Gas zu werden«, sagte Wirtschaftsminister Habeck bei der Vorstellung des »Fortschrittsberichts Energiesicherheit«.
Kurzfristig lassen sich für Gas und Öl aus Russland keine anderen Lieferquellen erschließen, die den Ausfall ausgleichen, so Sebastian Dullien, Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), und der Mannheimer Wirtschaftsprofessor Tom Krebs. Die Effekte bei einem Embargo wären ähnlich wie in der Coronakrise – die Wirtschaftsaktivität würde einbrechen und die Arbeitslosigkeit hochschnellen. Darüber hinaus würde die Inflation nochmals kräftig anziehen.
Auch eine aktuelle Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigt, dass ein Wirtschaftseinbruch infolge eines Importstopps nach 18 Monaten mit einem Minus von etwa 3% seinen Höhepunkt erreichen und sich über rund zehn Jahre erstrecken würde. Die DIW-Forscher gehen davon aus, dass ein Importstopp zudem zu einem Anstieg der Inflation um bis zu 2,3 Prozentpunkte führen werde.[3]
Als Erstes wären eine Reihe von Industriebetrieben betroffen, die ihre Produktion unterbrechen müssten. Mitte März hatte der Unternehmerverband Gesamtmetall seine Mitgliedsunternehmen befragt, welche Konsequenzen der Krieg für sie hat. Das Resultat: Fast alle spüren den Krieg – ein Drittel sogar »schwer«. Nur 5% der Gesamtmetall-Unternehmen mit 3,8 Millionen Beschäftigten in Deutschland sind nicht betroffen. Die drei Hauptprobleme sind: gestörte Handelsbeziehungen, unterbrochene Lieferketten sowie explodierende Energie- und Rohstoffpreise.
Unternehmen mit hohem Energieverbrauch müssten mit Rationierung rechnen und den Betrieb herunterfahren. Das beträfe nicht nur jene, die Erdgas etwa für Prozesswärme benötigen, sondern potenziell auch Stahlwerke. »Ohne Erdgas aus Russland wäre eine Stahlproduktion zurzeit nicht möglich«, erklärt die Wirtschaftsvereinigung Stahl. Stahl ist der Basiswerkstoff und Ausgangspunkt nahezu aller industriellen Wertschöpfungsketten.
Auch der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann hob im Handelsblatt warnend den Finger: »Ein sofortiges Embargo für Gas, Steinkohle und Öl wäre kontraproduktiv und würde Wirtschaft und Verbrauchern in Deutschland viel mehr schaden als Russland.«
Den Daten des Verbandes der Chemischen Industrie zufolge wird rund 14% des in Deutschland verbrauchten Gases in dieser Branche verwendet, ein knappes Viertel davon als Rohstoff. Zumeist wird aus dem Methan, aus dem Erdgas größtenteils besteht, Wasserstoff abgespalten, der für diverse Produkte benötigt wird. Etwa 95% aller Industrieerzeugnisse benötigten Chemieprodukte, warnt die chemische Industrie. Bei einem sofortigen Stopp der Energieimporte aus Russland drohe ein Jobkahlschlag, erklärte der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, Michael Vassiliadis, im Deutschlandfunk.
Dullien und Krebs weisen in ihrer Untersuchung auch auf die deutlich steigenden Kosten für Privathaushalte hin. Im Extremfall könnten die Mehrausgaben für Kraftstoffe, Heizung und Elektrizität mehrere Hundert Euro pro Monat betragen.[4] Die Menschen würden ihre Ausgaben für andere Dinge einschränken, was wiederum die Binnennachfrage schwächt und den wirtschaftlichen Abschwung beschleunigt. Die Einkommensverluste durch Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit würden Konsumzurückhaltung verstärken. Zugleich würden die steigenden Energiepreise die Inflation auf als mehr 5% anheizen.
Der Krieg in der Ukraine wurde zum »Trojanischen Pferd« für die Energiewende, indem vorgeschobene und halbwahre Begründungen und vermeintliche Sachzwänge angewandt werden, um die russischen Importe durch Einfuhren aus anderen Ländern zu ersetzen. Doch da gibt es ein Problem: Großbritannien, die Niederlande und Norwegen können dauerhaft kaum mehr fördern als bisher schon. Die west- und nordeuropäischen Gasvorkommen erschöpfen sich zunehmend.
Und es gibt Konflikte: Deutschland ist lange aus dem riesigen Erdgasfeld bei Groningen beliefert worden. Weil das jahrzehntelange Abpumpen des Gases aber immer häufiger zu Erdbeben führt, hatte die niederländische Regierung angekündigt, Mitte dieses Jahres den Förderprozess dort einstellen zu wollen. Das scheitert nun daran, dass die Bundesrepublik auf einer Fortsetzung der Belieferung besteht und sogar verlangt, deutlich mehr Erdgas aus Groningen zu erhalten als zuvor.
Um die Bezugsquellen zu diversifizieren, bleibt Flüssiggas, sogenanntes Liquefied Natural Gas (LNG), das in Tankern über die Ozeane transportiert, in LNG-Terminals entladen, regasifiziert und in die Gasnetze eingespeist wird. Der Pferdefuß besteht darin, dass kurzfristig kontrahiertes LNG sehr viel teurer ist als langfristig kontrahiertes Pipelinegas aus Russland. Dennoch arbeitet die Bundesregierung daran, 2022 und 2023 mehrere schwimmende LNG-Terminals in Deutschland in Betrieb zu nehmen. Wirtschaftsminister Habeck hatte sich vor einigen Wochen für den Bau sogenannter LNG-Terminals an der Elbmündung bei Brunsbüttel ausgesprochen.
Den Klimaschutz stellt der Grüne dafür hintenan. Denn Flüssiggas gilt als Klimakiller – ein beträchtlicher Teil seines Energieinhalts geht beim Verflüssigen, also Herunterkühlen, verloren. Auf den fatalen Treibhausgasfußabdruck von LNG machte der Methan-Experte Robert Howarth, Professor für Umweltforschung an der Cornell University in Ithaca, New York, aufmerksam. Er erklärte auf einer von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Deutschen Umwelthilfe gemeinsam veranstalteten Webkonferenz: Methan ist ein 120 Mal schädlicheres Treibhausgas als CO2.
Howarth führte aus, dass bei Produktion und Transport von Fracking-Gas mindestens 3,2% der enthaltenen Methanmenge in die Atmosphäre gelange und er hält sogar 6% für möglich (Telepolis 23.3.2022). Besonders umweltschädlich ist das in den USA mit dem Fracking-Verfahren[5] gewonnene Gas. Den Preis für das US-amerikanische »Freiheitsgas« zahlen die Menschen in jenen Bundesstaaten, wo es gefördert wird, mit ihrer Gesundheit und der Schädigung ihrer Umwelt.
Zu den Lieferanten des LNG gehören unter anderem Norwegen, Australien, die USA sowie die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Katar. Letzteren stattete Habeck ein Besuch ab, um Lieferungen abzuklopfen und zu vereinbaren. Sollen nun also wirklich die russischen Gaslieferanten gegen die VAE, die Krieg gegen den Jemen führen und Katar, das als Finanzier des islamistischen Terrors gilt, ausgetauscht werden?[6]
Die Schnelligkeit, mit der die Bundesregierung bestrebt ist, neue Lieferantenverträge abzuschließen – man ist geneigt zu sagen: »whatever it takes« – kontrastiert mit Langmütigkeit gegenüber der Preispolitik der Mineralöl- und Rohstoffkonzerne. Sofortige Preisanhebungen für Öl und Gas, das vor längerer Zeit zu deutlich günstigeren Konditionen eingekauft worden war, ermöglichen hohe Extraprofite, ebenso wie die Beibehaltung hoher Verkaufspreise an Zapfsäulen bei längst gefallenen Rohstoffpreisen.
Und was unternimmt der Bundeswirtschaftsminister? Er greift zu der bekanntermaßen schärfsten Waffe im Kampf um marktgerechtes Verhalten: Er beauftragt das Bundeskartellamt, sich die Sache mal näher anzuschauen. Das ist ebenso effektvoll wie »frieren für die Freiheit.«
Anmerkungen
[1] Der ehemalige Bundespräsident erhält vom Steuerzahler einen »Ehrensold« in Höhe von 236.000 Euro und zusätzlich eine Amtsausstattung in Höhe von 385.000 Euro, jeweils pro Jahr.
[2] Die russischen Energielieferungen sind Teil der sozialdemokratische »Entspannungspolitik« der 1960er Jahre. Am 1. Februar 1970 wurde das erste Abkommen geschlossen, aufgrund dessen bundesrepublikanische Unternehmen Stahlröhren in die Sowjetunion lieferten und die Sowjetunion nach Fertigstellung einer Pipeline seit 1973 Erdgas nach Westdeutschland pumpte. Das bis dahin umfangreichste Abkommen mit einer Laufzeit von 20 Jahren wurde im November 1981 unterzeichnet. Die Sowjetunion verpflichtete sich, jährlich 40 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Europa zu liefern. Zum Vergleich: Gegenwärtig sind es ungefähr 150 Milliarden Kubikmeter.
[3] Christian Bayer/Alexander Kriwoluzky/Fabian Seyrich: Stopp russischer Energieeinfuhren würde deutsche Wirtschaft spürbar treffen, Fiskalpolitik wäre in der Verantwortung, DIW-Aktuell 80/29.3.2022.
[4] Die Bundesregierung reagiert auf die hohen Energiepreise. Die Spitzenvertreter der Koalition aus SPD, Grüne und FDP einigten sich auf eine Energiepreispauschale, Steuererleichterungen, Subventionen bei Treibstoffen, einen Einmalbonus für Familien mit Kindern, Einmalzahlungen für Empfänger von Sozialleistungen und verbilligte Tickets für den Öffentlichen Personennahverkehr.
[5] Beim Fracking werden unter hydraulischem Hochdruck mithilfe von Sand, Wasser, Chemikalien und weiteren Zusatzstoffen Gesteinsschichten in großer Tiefe aufgesprengt. So können Gas und Öl entweichen und eingesammelt werden. Dabei werden Luft, Grundwasser, Trinkwasser vergiftet und Menschen gesundheitlich geschädigt.
[6] Die VAE sind neben Saudi-Arabien führend in der Kriegsallianz im Jemen-Krieg. Fast 380.000 Menschenleben haben der Krieg und die Blockade des Landes laut der UN bereits gekostet, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht. In Katar werden Oppositionelle gnadenlos verfolgt, die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind genauso wenig existent wie eine Gleichberechtigung der Geschlechter. Arbeitsmigranten sind weitgehend rechtlos, allein auf den Baustellen für die anstehende Fußballweltmeisterschaft der Männer sind 15.000 Menschen ums Leben gekommen.
7. April 2022 Otto König/Richard Detje, aus: Sozialismus