Warnstreiks bei VW: »Einer der härtesten Konflikte, die Volkswagen je gesehen hat«
Die Gewerkschaft IG Metall und der Betriebsrat haben beim Automobil-Konzern VW zu Warnstreiks aufgerufen, um so den Druck in der aktuellen Tarifrunde zu erhöhen. Die war am Donnerstag ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Bereits in der Nacht zum Sonntag hatten rund 300 Volkswagen-Beschäftigte und Metaller in Wolfsburg bei Erbsensuppe, Heißgetränken und Feuerkörben das Ende der Friedenspflicht mit symbolischen Glockenschlägen eingeläutet.
Denn am Sonntag endete die Friedenspflicht, während der Streiks nicht erlaubt sind. In allen betroffenen Fabriken werde die Produktion »temporär auf Eis liegen«, kündigte der Bezirksleiter des IG Metall Bezirks Niedersachen/Sachsen-Anhalt, Thorsten Gröger, an: »Nun folgen Warnstreiks, die das Unternehmen nicht übersehen kann. Wenn nötig, wird das einer der härtesten Konflikte, den Volkswagen je gesehen hat.«
Der zunächst zweistündige Warnstreik dürfte zu einem Ausfall von mehr als tausend Fahrzeugen führen. Volkswagen hat nach eigenen Angaben Vorkehrungen getroffen, um die Auswirkungen der befristeten Arbeitsniederlegungen gering zu halten.
In dem Konflikt geht es um die Bezahlung der rund 120.000 Beschäftigten in den Werken der Volkswagen AG, wo ein eigener Haustarif für die sechs Standorte (Braunschweig, Emden, Hannover, Kassel, Salzgitter und Wolfsburg) sowie für die VW-Töchter Financial Services, Immobilien und die dx.one GmbH gilt. Hinzu kommen mehr als 10.000 Mitarbeiter bei VW Sachsen, für die 2021 eine Angleichung an den Haustarif vereinbart wurde.
Der VW-Vorstand hat bisher jede Erhöhung abgelehnt und stattdessen im September unter Verweis auf die schwierige Lage des Konzerns 10% Lohnkürzung gefordert. Auch Werksschließungen und betriebsbedingte Kündigungen seien nicht ausgeschlossen. Kurz darauf kündigte er einseitig die seit drei Jahrzehnten bestehende Job-Garantie und deutete die Schließung von bis zu drei Werken an: Dresden, Osnabrück und Emden. Es folgten drei Verhandlungsrunden, in denen keine Einigung erzielt werden konnte.
Das VW-Management hat – wie das anderer Automobilunternehmen auch – längere Zeit den Übergang in das neue Zeitalter der Elektromobilität verpasst. Mit den teils kriminellen Methoden der Verschleierung von Abgasemissionen, den nachfolgenden Straf- und Entschädigungsprozessen ist die langjährige Performanz des Automobilkonzerns massiv beschädigt worden. Der Übergang auf die Neuausrichtung der Produktion wurde verzögert, ein erheblicher Teil der Gewinne wurde im Prozess der verzögerten Anpassung verschleudert. Das Management macht daher den Versuch die Kosten der Umstellung auf die Beschäftigten abzuwälzen.
Strukturelle Probleme in der Automobilbranche, eine schwache Nachfrage und hausgemachte Fehler und Versäumnisse belasten den Konzern. So müssten laut Angaben vom VW -Management rund 500.000 Fahrzeuge mehr produziert werden, um alle Werke auszulasten. Das entspreche der Kapazität von zwei Standorten. Doch die Nachfrage in Europa sei zu gering. Zudem sei man an einigen deutschen Standorten »doppelt so teuer wie der Wettbewerb«, was vor allem an den Lohnkosten liege.
Die Kernmarke VW erzielte im ersten Halbjahr nur noch eine Rendite von rund 2% statt der geplanten 6,5%, damit nötige Investitionen in die Digitalisierung, die Elektromobilität und das teilautonome Fahren getätigt werden können. Damit ist sie von allen Marken des Konzerns die schlechteste, Tendenz weiter fallend. Beispielsweise weist die VW-Tochter Škoda eine zwei- bis dreimal so hohe operative Marge auf.
Die Beschäftigten von VW und ihre Interessenvertreter*innen wollen dagegen in der anstehenden Tarifrunde mindestens einen Ausgleich für die Kaufkraftverluste durchsetzen, die sie wie alle Lohnabhängigen in den letzten Jahren durch die kriegsbedingten Preissteigerungen auferlegt bekamen. Obwohl die Inflationsfolgen in den letzten Lohnanpassungen schon etwas gedämpft wurden, liegen die Reallöhne aber immer noch auf dem Niveau von 2019. Zwar wuchsen die Reallöhne von Juli bis September binnen Jahresfrist um durchschnittlich 2,9%, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.
»Dieser Aufholprozess geht jedoch allmählich zu Ende«, räumt selbst der Arbeitsmarktexperte Dominik Groll vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) ein. Künftig dürften sich die Reallöhne wieder stärker an der Arbeitsproduktivität orientieren. Diese aber sei »angesichts der wirtschaftlichen Stagnation seit Jahren nicht gestiegen«. Eine vollständige Erholung zum Vorkrisentrend – also dem Reallohnniveau, das ohne Pandemie und Inflationsschub möglich wäre – zeichne sich daher nicht ab. Unterm Strich hätten die Reallöhne insgesamt »gerade erst mal das Niveau von 2019 erreicht«, ergänzte Groll. »Wir haben also fünf Jahre, in denen es keine Reallohnsteigerungen gab. Das ist außergewöhnlich.«
Am Verhandlungstisch war das VW-Management nicht zu einer tragfähigen Lösung des Tarifkonflikts bereit, zeigte sich trotz Entgegenkommens der Interessenvertretung der Beschäftigten maximal uneinsichtig. So hatten IG Metall und der VW-Gesamtbetriebsrat pünktlich zur letzten Verhandlungsrunde eigene zentrale Eckpunkte eines Zukunftskonzeptes für Volkswagen vorgestellt. Der Lösungsansatz sieht vor, die Sparziele der Unternehmensspitze über Änderungen bei den Personalkosten mit circa 1,5 Milliarden Euro zu flankieren.
Zudem zeigte man sich bereit, im Rahmen eines umfassenden Sicherungspakets auch über die befristete Einbringung von Teilen der Ergebnisbeteiligung zu verhandeln. Dies wäre jedoch nur denkbar, wenn der Gesamtplan auch Einschnitte von Vorstand, Management und Anteilseignern vorsieht, um Investitionen in die Zukunft von Volkswagen zu ermöglichen. Ebenso fordert die Gewerkschaft Perspektiven für alle Standorte sowie eine neue Beschäftigungssicherung und erklärte die Bereitschaft, Tariferhöhungen in einen Zukunftsfonds einzubringen und vorerst nicht auszahlen zu lassen. Im Gegenzug sollte VW auf Werkschließungen und betriebsbedingte Kündigungen verzichten.
Die VW-Leitung hatte daraufhin angekündigt, das Konzept zunächst finanziell bewerten zu müssen, und später die Vorschläge von IG Metall und Betriebsrat zur Kostenentlastung als nicht ausreichend bezeichnet. »Eine nachhaltige Einsparung von 1,5 Milliarden Euro ist auch nach intensiver Analyse nicht feststellbar«, hieß es aus der Konzernspitze. »Zwar können sich kurzfristig auch positive Effekte ergeben, jedoch führen die genannten Maßnahmen überwiegend zu keiner finanziellen nachhaltigen Entlastung des Unternehmens in den kommenden Jahren.« Man wolle aber mit der Arbeitnehmerseite im Dialog bleiben.
Wenige Tage nach der Tarifverhandlung sorgten allerdings Aussagen von Markenchef Thomas Schäfer in den Medien für neue Flammen im Tarifkonflikt. »Wiederholt haben verschiedene Vorstände in den letzten Wochen erklärt, dass sie weiterhin an Szenarien festhalten, die auch Werksschließungen vorsehen. Die Stimmung in der Belegschaft ist ohnehin schon aufgeladen, doch der Vorstand sieht es als notwendig an, weiteres Brennholz ins Feuer zu werfen!« erklärte der IG Metall-Verhandlungsführer Thorsten Gröger. »In den kommenden Tagen wird das Unternehmen die Früchte seiner Entscheidungen ernten: Konflikt und Arbeitskampf! Wir haben uns am Verhandlungstisch kompromissbereit gezeigt, doch unsere ausgestreckte Hand wurde abgewiesen«, zumal das Konzept »sehr wohl einer Entlastung in der bezifferten Höhe« entsprechen würde.
Die Vorsitzende des VW-Gesamtbetriebsrates Daniela Cavallo betonte: »Der Frust in der Belegschaft ist groß. Die Kolleginnen und Kollegen suchen seit Wochen ein Ventil, um Dampf abzulassen. Das ist nun endlich da mit der Möglichkeit für Warnstreiks. Ich bin mir sicher, dass wir einen enormen Zuspruch haben werden, wenn die ersten Aktionen anstehen. Und wohin dann die Belegschaft mit ihrem Unmut will, steht auch unmissverständlich fest: In Richtung Vorstand, der Öl ins Feuer gießt, anstatt seiner Verantwortung gerecht zu werden.«
Am 9. Dezember sollen die Tarifverhandlungen fortgesetzt werden. Ein Kompromiss zeichnet sich bis jetzt allerdings nicht ab. Sollte das VW-Management weiter unbeweglich bleiben und keine Einigung erreicht werden können, drohen weitere Streiks und erhebliche Kosten für das Unternehmen in Milliardenhöhe.
Auf eine Besonderheit muss abschließend hingewiesen werden: Beim VW-Konzern gibt es eine öffentliche Beteiligung am Eigentumsverhältnis, geregelt durch das 1960 verabschiedete VW-Gesetz: Das Land Niedersachsen, in dem VW seinen Sitz hat, besitzt eine Sperrminorität. Das bedeutet, dass wichtige Beschlüsse der Hauptversammlung eine Mehrheit von mehr als 80% statt der üblichen 75% erfordern. Die Landesregierung hat damit ein gewichtiges Wort bei VW mitzureden und entsendet auch zwei Vertreter in den Aufsichtsrat. Einer davon ist derzeit Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), der andere ist Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD).
Weiterhin enthält das VW-Gesetz Sonderregelungen für Standortentscheidungen. Entscheidungen über Produktionsstandorte bedürfen einer Zweidrittelmehrheit im Aufsichtsrat. Damit erhalten die Vertreter der Beschäftigten mehr Einfluss. Dies hat zur Folge, dass Produktionsverlagerungen ins Ausland gegen ihre Stimmen nicht möglich sind.
Bislang allerdings hält sich die Landesregierung in dem Konflikt eher bedeckt, klare Botschaften in Richtung Beschäftigte fehlen. Zwar wird von Management-Fehlern gesprochen, aber von einer Mitverantwortung der Aktionäre und der Eigentümer-Familien Porsche und Piech ist kaum die Rede. Die Hauptaktionäre haben zwar die Geschäftspolitik und die Unternehmensführung von Volkswagen auf den Hauptversammlungen immer wieder kritisiert, aber zugleich immer den Kopf in den Sand gesteckt – auch mit dem Ergebnis, dass der Konzern in den letzten Jahren nicht die Reformen angepackt hat, die wegen der technologischen Veränderungen und den Verschiebungen im globalen Weltmarktsegment erforderlich gewesen wären. Stattdessen haben sie die üppige Dividende, die die Volkswagen AG für das Geschäftsjahr 2023 in Höhe von insgesamt 4.5 Mrd. Euro an seine Aktionäre am 4. Juni 2024 ausschüttete, gern mitgenommen.
Sozialismus, 2.12.24