»Wenn jemand das Recht auf Asyl hat, dann zweifellos die Roma«
Der Historiker Wolfgang Wippermann über tief sitzende Vorurteile und wie Politik und Medien vor der europaweiten Diskriminierung einer Minderheit die Augen verschließen
Das Asylrecht soll verschärft werden: Die Westbalkanländer als sichere Herkunftsländer gelten. Diese Entscheidung ist falsch, leiden doch viele Roma in diesen Ländern unter schwerwiegender Diskriminierung.
Früher hieß es: Wäsche weg, die Zigeuner kommen! Heute gibt es Diskussionen über angebliche Sozialtouristen aus dem Westbalkan und Bettelverbote für Kinder, bei denen kein einziges Mal das Wort Roma fällt. Dabei geht es genau um sie. Wie erklären Sie sich das?
Das ist sprachliche Mimikry. Wir nennen die Roma nicht mehr »Zigeuner«, diskriminieren und verfolgen sie aber, weil sie »Zigeuner« sind oder sein sollen. Dies geschieht übrigens keineswegs nur auf dem Westbalkan, sondern auch in einigen weiteren ost- und westeuropäischen Ländern. Bei vielen der als Kosovo-Albaner oder Rumänen bezeichneten Personen handelt es sich um Roma, die zu uns kommen, um der rassistischen Verfolgung in ihren Heimatländern zu entgehen.
Das wird von vielen Politikern bis hin zu den Grünen und auch vom Bundesamt für Migration bestritten.
Ja, und das ist ja der eigentliche Skandal. Es ist einfach nicht wahr, dass Länder wie Mazedonien und Serbien »sichere Herkunftsländer« sind. Das Bundesamt für Migration betreibt hier eine Desinformationskampagne. Leider wird dies von den Parteien nicht kritisiert und von den Medien nicht aufgedeckt. Im Frühjahr dieses Jahres beispielsweise wurde von Unruhen in Mazedonien berichtet. Niemand hat darauf hingewiesen, dass die Opfer dieser Unruhen in erster Linie Roma waren. Das ist eine Schweigespirale. Auch die Medien haben hier auf der ganzen Linie versagt. Natürlich kommen einige Menschen aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland. Aber man muss sich ihre Lage einmal genauer anschauen: Roma werden vom Arbeitsmarkt verdrängt, ihre Kinder in Sonderschulen geschickt. Sie leben in entsetzlichen Verhältnissen. Diese Menschen kommen nicht nur, weil sie systematisch verarmt werden, sondern auch, weil sie rassisch diskriminiert werden. Wenn jemand das Recht auf Asyl hat, dann zweifellos die Roma.
Die Anerkennungsquote liegt seit Langem bei unter einem Prozent.
Das kann nicht sein. Das zeugt davon, dass das im Artikel 16 des Grundgesetzes fest gelegte Asylrecht systematisch eingeschränkt und verletzt wird. Ein klarer Verfassungsbruch.
Warum kommen derzeit so viele Roma-Familien aus Ost- und Südosteuropa?
Dieser Eindruck täuscht. Es gibt keine Masseneinwanderung, sondern es handelt sich um einige Zehntausend Menschen. Ein Teil macht schlicht und einfach von dem EU-weit geltenden Recht auf Freizügigkeit Gebrauch, weil sie aus EU-Ländern stammen. Ein anderer Teil ersucht um Asyl, weil sie in ihren Heimatländern aus rassistischen Gründen diskriminiert und verfolgt werden. Wir sind über 80 Millionen und sollen mit diesen Zahlen nicht fertig werden? Das ist doch Quatsch.
Das Bundesamt klagt, wegen der vielen »unbegründeten Anträge« fehlten Kapazitäten für die »echten Flüchtlinge«.
Das ist ein ganz widerlicher Trick. Man dividiert die verschiedenen Flüchtlinge auseinander und unterscheidet in gute Asylsuchende und schlechte. Die einen haben Abitur oder Studium und dürfen deshalb vielleicht hier bleiben. Die anderen sperrt man in Abschiebelager – nach dem Vorbild der Konzentrationslager der Weimarer Republik.
Konzentrationslager in der Weimarer Republik?
Sie richteten sich gegen »Ostjuden« und haben von 1921 bis 1923 in Stargard/Pommern, Cottbus-Sielow und in Ingolstadt bestanden. Das waren Abschiebelager, die offiziell »Konzentrationslager« genannt wurden. Da wiederholt sich die Geschichte. Man hat die Vergangenheit nicht aufgearbeitet und nichts daraus gelernt.
Warum ist die Verfolgungsgeschichte der Roma so wenig präsent?
Weil die Roma keinen Staat haben, der die Staaten, welche die Roma verfolgt haben, hätte anklagen können. Wiedergutmachung wurde nur von Deutschland und nur für die Sinti und Roma geleistet, die ihre deutsche Staatsbürgerschaft nachweisen konnten. Die ausländischen Roma, die auch von anderen Staaten verfolgt worden sind, gingen leer aus. In all dem unterscheidet sich die Verfolgungsgeschichte der Roma von der der Juden. Dies darf nicht sein. Vorurteile gegenüber den Roma müssen genauso geächtet werden wie gegenüber den Juden. Antisemitismus und Antiziganismus müssen mit gleicher Intensität bekämpft werden.
Roma wird vor allem bestimmtes Verhalten vorgeworfen: Bettelei, Diebstahl, Verwahrlosung. Worin besteht der Rassismus?
Weil so getan wird, als sei ein bestimmtes soziales Verhalten genetisch bedingt, als hätten alle Roma dieselben Eigenschaften. Der Zigeuner, der herumziehende Gauner – dieses Bild lebt bis heute fort. Und dieses Bild ist rassistisch.
Viele Menschen glauben, dass Roma dieses Leben frei wählen und statt zu arbeiten, lieber betteln gehen oder ihre Kinder mit Trompeten durch die U-Bahnen schicken.
Die machen das nicht aus Jux und Tollerei, sondern um über die Runden zu kommen. Zudem muss man sagen: Betteln war in vielen Ländern früher normal. Seit Luther wird Betteln als moralisch verwerflich angesehen und gepredigt, die sollen lieber arbeiten. Bei uns gilt das Prinzip Erziehung durch Arbeit oder Arbeit macht frei.
Wieso treffen Roma so viele Vorurteile?
Für den Antiziganismus sind nicht die Roma verantwortlich zu machen, sondern die Gadsche.
Gadsche?
Das ist die Bezeichnung der Roma für alle Nicht-Roma. Es bedeutet ursprünglich Bauer. Meines Erachtens hat das Wort keine pejorative Bedeutung. Ich gebrauche es, um »Nicht-Roma« vermeiden zu können. Die Gadsche haben Vorurteile über Jahrhunderte wiederholt. Sie werden zudem politisch instrumentalisiert. Es nützt den Herrschenden, wenn man Sündenböcke hat, die man für alles verantwortlich machen kann. Die gesamte Literatur – die wissenschaftliche und auch die belletristische Literatur – ist antiziganistisch geprägt. Über kein Volk wissen wir so wenig und zugleich so viel Negatives wie über die Roma.
- Wolfgang Wippermann
- Der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann belegt in seinem neuen Buch »Niemand ist ein Zigeuner. Zur Ächtung eines europäischen Vorurteils« (edition Körber-Stiftung 2015, 256 Seiten), wie Roma und Sinti durch uralte Vorurteile bis heute benachteiligt und ausgegrenzt werden. Mit dem engagierten Wissenschaftler sprach Ines Wallrodt.
Nd, 29.07.15