»Wuchtige« 65 Mrd. sind viel Geld, aber kein »großer Wurf« und zum Teil ein »schlechter Witz«
Den Haupttreiber für den sich abzeichnenden »makroökonomischen Schock« sehen ökonomische Beobachter*innen vor allen in den rasant gestiegenen Gas- und Nahrungsmittelpreisen. Wer sein Geld nur noch in die grundlegenden Kosten – Miete, Energie, Lebensmittel – ausgeben muss, fällt für andere Konsumarten aus.
Mit der Folge, dass die gesamte Wirtschaft in die Rezession zu gleiten droht. Vor diesem Hintergrund haben sich die Spitzen der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP auf ein drittes Entlastungspaket verständigt. Mit diesem Paket werde Deutschland »durch diese schwierige Zeit kommen«, versicherte Kanzler Olaf Scholz (SPD) bei der Vorstellung. Denn die Berliner Republik stehe angesichts der Folgen des Ukrainekriegs »vor einer schweren Zeit«.
»Wuchtig« sei es ausgefallen, sagte der Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner bei der Präsentation des Pakets zur Abfederung der hohen Energiepreise. In der Tat: Mit über 65 Mrd. Euro für 2022 und 2023 fällt es mehr als doppelt so umfangreich aus wie die zwei bisherigen Pakete zusammen. Die Ampel-Koalition lässt sich den Kampf gegen den rapiden Kaufkraftschwund insgesamt knapp 100 Mrd. Euro kosten.
Rentner*innen, die bei den ersten Paketen »vergessen« wurden, bekommen jetzt einmalig 300. Ebenso Student*innen, den die Universitäten nun 200 Euro auszahlen sollen. Erhöhen will man das Kindergeld, das Wohngeld und die Grundsicherung. Das Bürgergeld sollte ohnehin zum neuen Jahr neu konzipiert werden und wird ab Januar 2023 auf 500 Euro erhöht. Das Paket verbinde »Solidarität mit Leistungsgerechtigkeit und Solidität«, sagte Lindner.
Entlastung für die unteren Einkommen unzureichend
Das Entlastungspaket enthält Maßnahmen, die untere und mittlere Einkommen entlasten. Zugleich wird bei etlichen Vorschlägen mit der Gießkanne gearbeitet, die die Besserverdienenden bevorteilen (z.B. Abmilderung der kalten Progression, aber auch Kindergeld). Zudem bleibt die Finanzierung des Stromdeckels ein Versprechen, das erst eingelöst werden muss. Und nicht alle Maßnahmen werden schon in diesem Jahr wirksam, so dass z.B. die Bezieher*innen von Hartz IV bis zum Jahresende leer ausgehen.
Zwar beteuert Lindner, die Maßnahmen könnten aus den Bundeshaushalten 2022 und 2023 unter Einhaltung der Schuldenbremse finanziert werden. Allerdings müssen 33 Mrd. Euro aufgebracht werden, um die geplante Strompreisbremse zu finanzieren. Von den anvisierten 65 Mrd. Euro kommen nur 32 Mrd. Euro aus dem Bundeshaushalt, der Rest aus der Abschöpfung von »Zufallsgewinnen«.
Der FDP-Joker: Abschöpfung von Zufallsgewinnen
Diese großzügige Gestaltung der Anti-Krisenmaßnahmen gelingt auch deshalb, weil die geplante Strompreisbremse durch die Abschöpfung von »Zufallsgewinnen« bei Energiefirmen finanziert werden soll. Im Beschlusspapier steht dazu: »Zudem werden auf europäischer Ebene Möglichkeiten der Abschöpfung von Zufallsgewinnen von Energieunternehmen diskutiert, die in der aktuellen Marktlage aufgrund des europäischen Strommarktdesigns deutlich über die üblichen Renditen hinausgehen. Dazu gehören insbesondere Erlös- bzw. Preisobergrenzen für besonders profitable Stromerzeuger.« Für einen Basisverbrauch soll ein subventionierter Preis gelten, so dass Sparen attraktiver wird. Was oberhalb dieser Grenze verbraucht wird, hat reguläre Preise.
Sogleich kam Kritik auf, weil es nicht auch einen Preisdeckel für Gas geben soll. Mit den bisherigen Entlastungspaketen wurde bereits der Strompreiszuschlag zur Förderung erneuerbarer Energien (EEG-Umlage) abgeschafft.
Insbesondere die Finanzierung der geplanten Strompreisbremse ist noch völlig unklar: Ein Basisverbrauch an Strom soll den privaten Haushalten sowie kleinen und mittleren Unternehmen vergünstigt abgegeben werden. Dies soll zu einer Entlastung führen, ohne den Preismechanismus und damit die Anreize zum Energiesparen ganz auszuhebeln. Finanzieren will die »Ampel« dies durch die »Abschöpfung von Zufallsgewinnen« von Energieunternehmen, wie sie derzeit in der EU diskutiert wird.
Es geht um das Merit Order-Prinzip: In Spitzenzeiten werden Gaskraftwerke als Letzte angeworfen, weil sie den teuersten Strom erzeugen. Damit setzen sie an den Börsen den Preis für die gesamte Stromerzeugung, und der hohe Gaspreis treibt den Strompreis in die Höhe. Vor allem mit Strom aus erneuerbaren Quellen oder Kernkraftwerken lässt sich derzeit viel Geld verdienen.
Die Grenzkosten für die Produktion einer Kilowattstunde bewegen sich bei diesen Technologien deutlich unter dem Marktpreis. Das liegt daran, dass der Preis von den teuersten Kraftwerken bestimmt wird. Dabei handelt es sich oft um Gaskraftwerke. Würde die Nachfrage beim Strom stärker auf Preisveränderungen reagieren, würden die teuersten Kraftwerke gar nicht erst zugeschaltet. Der Marktpreis für Elektrizität würde stark fallen.
Oder anders gesagt: Damit »Übergewinne« bei günstig produzierenden Kraftwerken entstehen, muss jemand bereit sein, den teuren Strom zu kaufen. Zugleich steigen damit tatsächlich die Gewinne der Erzeuger von Wind-, Solar-, Kohle- und Atomstrom. Wenn die Stromproduzenten damit rechnen müssen, dass der Staat künftig einen Teil des Deckungsbeitrags abschöpft, weil es sich dabei angeblich um einen »Übergewinn« handelt, hat dies Konsequenzen für künftige Investitionsentscheide.
Im Unterschied zu der angestrebten Strompreisstabilisierung fällt der »Ampel« für den Gaspreis wenig ein: Von einem Gaspreisdeckel ist erst recht keine Rede. Als Ausgleich für die Gasumlage wird die Umsatzsteuer auf den gesamten Gasverbrauch bis Ende März 2024 von 19% auf 6% gesenkt.
Staatliche Eingriffe in diese Preisbildung drohen mehr unerwünschte Nebenwirkungen zu schaffen als Probleme zu lösen. Zudem lechzt Europa derzeit wegen des Klimaschutzes und zur Ablösung russischer Energieträger nach erneuerbarer Energie: Ist es klug, zugleich die Gewinne ihrer Erzeuger abzuschöpfen und damit Investitionsanreize zu schmälern? Auch ist ungewiss, ob und wann sich die EU auf einen solchen Mechanismus einigen wird. Sollte dies nicht zeitnah geschehen, plant die »Ampel« eine nationale Lösung. Wie diese dann in einen EU-weiten Strombinnenmarkt passt, bleibt ihr Geheimnis.
Kein »großer Wurf« und vage Versprechungen
Für ver.di-Chef Frank Werneke ist das neue Entlastungspaket nicht der »große Wurf«, der »vor allem die am stärksten Betroffenen absichert und unterstützt«. Der geplante höhere Wohngeldzuschuss, der statt rund 600.000 Bedürftigen rund zwei Millionen Bürger*innen zugutekommen soll, sei zwar zu begrüßen. Aber es sei »keine angemessene Lösung, Beschäftigte mit eher geringen Einkommen regelmäßig zu Wohngeldempfängern zu machen«. Es fehlten weitere direkte Zahlungen für Menschen mit eher niedrigen und mittleren Einkommen. Stattdessen würden erneut die sehr gut Verdienenden durch die bereits zuvor von Bundesfinanzminister Lindner angekündigten Steuerpläne mit bis zu 1.000 Euro entlastet.
Erfreulich sei, dass dieser »plötzlich neue Spielräume in Milliardenhöhe im Bundeshaushalt entdeckt hat – am Fetisch der Schuldenbremse festzuhalten, ist dennoch völlig unverständlich«, so Werneke. Und die geplante Einführung eines preiswerten bundesweiten Nahverkehrstickets könne nur dann erfolgreich gelingen, wenn gleichzeitig massive Investitionen in den Ausbau des ÖPNV erfolgten. Dazu gehöre vor allem auch mehr und besser bezahltes Personal.
Das Entlastungspakt enthält für den IG Metall-Chef Jörg Hofmann »wichtige Weichenstellungen für Bürgerinnen und Bürger wie auch Unternehmen. Dennoch lässt es viele Fragen offen. Überfällig waren die jetzt beschlossenen Hilfen für Rentner und Studierende. Gleichwohl bleibt die Ampel bei wesentlichen Punkten auf halbem Weg stehen: Die Strompreisbremse ist ein wichtiger Schritt, muss aber um einen Gaspreisdeckel ergänzt werden. Hier verweist die Ampel auf ein noch zu erarbeitendes Konzept. Auch bei der Abschöpfung der Zufallsgewinne allein im Strommarkt springt die Ampel zu kurz.
Die Entlastung der Berufstätigen mit langen Wegen zur Arbeitsstätte bleibt vage. Die angekündigten steuerpolitischen Maßnahmen wie die Steuerfreistellung von 3.000 Euro an zusätzlichen Zahlungen, etwa durch eine Tariferhöhung, kann eine deutliche Entlastung sein.
Kurzum: Während für die Haushalte mit sehr niedrigen Einkommen durchaus wirksame Entlastungen vereinbart wurden, ist der unmittelbare Entlastungseffekt für die Durchschnittshaushalte unzureichend und an weitere Voraussetzungen gebunden. Hier muss nachgebessert werden.«
Neben den Bürger*innen ist vor allem die Industrie von den steigenden Energiekosten betroffen. Auch für sie sind Erleichterungen geplant. Es gibt Kredithilfen, das Kurzarbeitergeld wird fortgesetzt, die Unternehmen werden bei der Strompreisbremse einbezogen, und die Umsatzsteuersenkung für die Gastronomie wird verlängert. Auch die CO2-Preis-Erhöhung wird ausgesetzt. Das trug der »Ampel« den Vorwurf ein, das Paket sei klimaschädlich – von Grünen, aber auch vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).
Marcel Fratzscher, Chefökonom des DIW, twitterte: »Das dritte Entlastungspaket enthält gute Elemente, ist aber unausgegoren, verteilt Gelder zu sehr per Gießkannenprinzip und ignoriert den Klimaschutz.« Letzteres ist auch für Fridays for Future Deutschland eine große Fehlanzeige unter allen Maßnahmen: »Das Entlastungspaket macht fossile Rückschritte und gibt keine gerechten Antworten«, heißt es in einem Tweet der jungen Klimarechtsbewegung. Und weiter: Einen der »größten Erfolge«, das 9-Euro-Ticket, nicht weiterzuführen, sondern voraussichtlich fünf- bis siebenmal teurer zu machen, zeige, wie ambitionslos die Ampel in Sachen klimagerechte Politik sei.
Bei der Re-Regulierung des Energiemarkts, die notwendig für das Eindämmen der Preisentwicklung ist, bleibt Vieles im Vagen oder wird an Kommissionen verwiesen. Hier ist man an europäische Lösungen gebunden, deren Zustandekommen offen ist. Maßnahmen für einen beschleunigten Ausbau der regenerativen Energien fehlen völlig, stattdessen werden fossile Rückschritte in Kauf genommen. Spezielle Maßnahmen für die auch unter den hohen Energiekosten leidenden kleinen und mittleren Unternehmen sind unzureichend oder fehlen ganz.
Höhe des Bürgergelds ein »schlechter Witz«
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, sieht das Entlastungspaket mit sehr gemischten Gefühlen: So sei die Ausweitung des Kreises der Wohngeldberechtigten absolut begrüßenswert. Hier handele es sich um eine sozialpolitisch überfällige und wirklich wichtige Maßnahme, die allerdings erst im kommenden Jahr greifen wird. Ansonsten würden »mit diesem Entlastungspaket […] in erster Linie Fehler und Ungerechtigkeiten aus dem letzten Paket korrigiert, aber keinerlei zusätzliche zielgerichteten Hilfen auf den Weg gebracht, die auch den Ärmsten in der Grundsicherung in diesem Herbst substanziell Unterstützung und Entlastung bringen würden.«
»Dass diese Bundesregierung in diesem Jahr überhaupt keine weiteren zielgerichteten Hilfen auch für Menschen in der Grundsicherung plant«, habe sich der Paritätische allerdings nicht vorstellen können. »Die angekündigte Anhebung der Grundsicherung auf knapp 500 Euro ab dem 1. Januar ist allenfalls ein schlechter Witz und wird, wenn überhaupt, gerade die Inflation ausgleichen. So kann das neue Bürgergeld ganz sicher nicht als soziale, innovative Errungenschaft verkauft werden. Der Paritätische bleibt bei seiner Forderung nach einer pauschalen Anhebung der Regelsätze um 200 Euro ab Oktober. Zusätzlich sind die Stromkosten als Bestandteil der Wohnkosten in voller tatsächlicher Höhe zu übernehmen.
Alles in allem sind die vorgelegten Pläne nicht geeignet, um den Menschen in diesem Herbst wirklich Zuversicht zu geben. Ein Hauptproblem bleibt der steuerpolitische Kurs der Bundesregierung: Wer an Steuererleichterungen um jeden Preis festhält, dabei Steuererhöhungen ausschließt und die Schuldenbremse nicht verhandeln will, beraubt sich des eigenen Handlungsspielraums. Eine wuchtige Krisenbewältigung, die diese Gesellschaft zusammenhält und alle mitnimmt, braucht eine beherzte Finanz- und Steuerpolitik und klare sozialpolitische Prioritäten. Beides bleibt die Ampel bisher schuldig.«
5. September 2022 Joachim Bischoff/Bernhard Müller/Björn Radke, Sozialismus