Zum Antikriegstag 2021 – Wider aller Vernunft
»Wider aller Vernunft stellt sich die deutsche Politik in den Dienst einer verhängnisvollen Logik von Aufrüstung und Abschreckung – eine Logik, die inzwischen wieder das Weltgeschehen prägt. Das internationale Wettrüsten hat unfassbare Ausmaße erreicht«, heißt es im DGB-Aufruf zum diesjährigen Antikriegstag 2021 am 1. September.
An jedem 1. September machen auch der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften seit 1957 deutlich: Die deutschen Gewerkschaften stehen für Frieden, Demokratie und Freiheit. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!
Die globalen Rüstungsausgaben sind mit über 1,7 Billionen US-Dollar so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Auch in Deutschland kennen die Entscheider über die Militärhaushalte seit Jahren nur einen Weg – und zwar den nach oben: von 24,3 Milliarden Euro (2000) über 32,5 Milliarden Euro (2014) und 38,5 Milliarden (2018) auf 52 Milliarden Euro (2021).
Mit Blick auf die noch unklare Regierungskonstellation nach der Bundestagswahl entwickelten Strategen des Verteidigungsministeriums im Frühjahr 2021 massiven Druck, um den eigenen budgetären Spielraum zu erweitern und den der kommenden Bundesregierung so weit als möglich einzuengen. Der Rüstungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) gelang ein milliardenschwerer Coup: In der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause peitschte die schwarz-rote Bundesregierung 27 neue Rüstungsprojekte in einer Gesamthöhe von fast 20 Milliarden Euro durch den Verteidigungs- und Haushaltsausschuss des Bundestages.
Zu den umfassendsten Projekten gehören:
- das Future Combat Air System (FCAS),
- der Seefernaufklärer P-8A Poseidon,
- die U-Boote der Klasse 212 Common Design (U212CD),
- das Hauptbodenkampfsystem (MGCS) zur Entwicklung eines Kampfpanzers
- sowie die Nachrüstung des Schützenpanzers PUMA.
Diese Projekte sind mit gigantischen Kosten verbunden. Allein die Ausgaben für das Panzersystem werden Schätzungen zufolge bei 100 Milliarden Euro liegen. Das FCAS betreffend berichtete das Handelsblatt sogar von Ausgaben »bis zu 500 Milliarden Euro … bis Mitte des Jahrhunderts«. Um die Finanzierbarkeit der besonders teuren deutsch-französischen Großprojekte sicherzustellen, schwebt dem Verteidigungsministerium vor, deren Kosten einfach anderen Haushaltsposten aufs Auge zu drücken.
Wenige Tage vor dem Durchwinken der milliardenschweren Rüstungsprojekte im Haushaltsausschuss hielt Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) vor Offizier:innen des Generalstabs in Hamburg ihre dritte außenpolitische Grundsatzrede, in der sie den Atommächten Russland und China abermals drohte und eine weitere Erhöhung des Militärhaushalts ankündigte. »Aufsteigende Mächte, revolutionäre Technologien, wiedererstarkte Ideologien, Demografie, Pandemien und Klimawandel« – all dies lasse eine globale Lage entstehen, die hohen »Anpassungsdruck« auf die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausübe. Verteidigung heißt in diesem Verständnis: »Abschrecken mit der Androhung militärischer Gewalt, um so Raum für politische Lösungen zu schaffen. Aber notfalls heißt es auch Anwendung militärischer Gewalt – kämpfen«, so die Oberbefehlshaberin.
In der Aufrüstung der Armee sieht AKK auch ein Wirtschaftspotenzial. »Am besten wäre es, wenn diese Technologien aus Deutschland kämen, weil sie hier entwickelt und erfunden wurden«, so die ministrable Rüstungslobbyistin. Deutschland müsse den rasanten technologischen Wandel in der Welt »aktiv mitgestalten«. Dass deutsche Waffenexporte weltweit zu Krisen- und Konfliktverschärfungen beitragen, erwähnte sie berechnenderweise nicht.
»Kriege sind Big Business« charakterisier(t)en die Entwicklung in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien oder in der Sahelzone. Geldmaschinen für internationale Waffenschmieden und deren Aktionäre. Von Anfang 2002 – dem Beginn der US-amerikanischen und NATO-Intervention in Afghanistan – bis heute wurden allein von der Bundesregierung Rüstungsexporte für 418,8 Millionen Euro in das zentralasiatische Land genehmigt. In der jetzt zu Ende gehenden Legislaturperiode war das Land am Hindukusch mit 29,8 Millionen Euro unter den zehn größten Empfängern deutscher Rüstungsgüter unter den Entwicklungsländern.
Während Politiker:innen und ihnen nahestehende Militäreliten völkerrechtswidrige Interventionen wie in Afghanistan und im Irak als »humanitäre Akte« charakterisieren und mit der »Verteidigung von Freiheit, Rechtstaatlichkeit und Demokratie« begründen, vernebeln Rüstungslobbyisten mit Sprüchen wie Deutschland müsse »mehr für die Sicherheit Europas tun« und könne sich »seinen Schutzschirm nicht von den USA bezahlen lassen«, ihre Profitansprüche. Zu Recht heißt es im DGB-Aufruf: »Es ist höchste Zeit, das Ruder herumzureißen! Wir benötigen die Rüstungs-Milliarden dringend für andere Zwecke. Im Zuge der Corona-Krise (und aktuell der Flutkatastrophe – d. Verf.) haben sich die sozialen Ungleichheiten und die Verteilungskonflikte in unserem Land und weltweit verschärft«.
Das desaströse Scheitern des US-amerikanischen »war on terror« in Afghanstan, propagandistisch als »Operation Enduring Freedom« verkauft,[1] sollte Anlass sein, die enorme Ausweitung des deutschen Militärbudgets infrage zu stellen. Allein für den Krieg der Bundeswehr in Afghanistan hat die Bundesregierung von 2001 bis Ende 2020 rund 12,2 Milliarden Euro aufgewandt.[2] Das »Costs of War Project« beziffert die Ausgaben der USA von 2001 bis 2021 auf rund 2,26 Billionen US-Dollar. Darin nicht enthalten sind die Beträge, die Washington in den kommenden Jahren und Jahrzehnten an Kriegsveteranen zu zahlen hat. Auch fehlen die Zinsbeträge, die in Zukunft aufgebracht werden müssen, um kriegsbedingt aufgenommene Kredite zu bedienen (German Foreign Policy, 1.7.2021).
Es sei eine »bittere Erkenntnis«, dass »nicht alles so geglückt ist und nicht so geschafft worden ist, wie wir es uns vorgenommen haben«, verniedlicht Kanzlerin Angela Merkel das Waterloo der »Koalition der Willigen«, das einer Viertelmillion Menschen das Leben gekostet hat[3] – ungezählt die verletzten, verstümmelten und traumatisierten Menschen, darunter zehntausende Kinder. Die offiziellen Begründungen Berlins für den Auslandseinsatz der Bundeswehr, den die Bundestagsabgeordneten in ihrer Mehrheit immer wieder absegneten, erwiesen sich als äußerst anpassungsfähig.
Es begann mit dem Spruch des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck (SPD): »Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.« Später wurde das Narrativ gepflegt, es handele sich um einen »humanitären Einsatz«: Die Bundeswehr bohre vor allem Brunnen, engagiere sich im Aufbau eines zeitgemäßen Bildungssystem und setze sich für die Rechte der Frauen ein. Mit Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, die stets zur Begründung für US-geführte Kriege in der islamischen Welt herangezogen werden, hatte das jedoch nichts zu tun – die »Sicherung« der »Vorherrschaft im indo-pazifischen Raum« stand im Zentrum.[4]
Wie die chaotische Flucht der US-Armee 1975 aus Vietnam, so macht auch der chaotische Abzug 2021 aus Afghanistan das Scheitern des geopolitisch begründeten Kriegs- und Nation-Building-Konzepts« der USA und der NATO-Staaten deutlich. Die von Anfang an fragwürdige Annahme, man könne einem Land, in dem 50 Sprachen gesprochen werden, das auf eine Jahrtausende alte Kulturgeschichte zurückblickt und in den vergangenen Jahrzehnten in Armut und sozio-ökonomischem Niedergang abgesackt ist, mit einem militärisch flankierten Ideologieexport das sogenannte »westliche Wertesystem« überstülpen, löste sich im August 2021 in Rauch auf. Tatsächlich haben die USA und ihre Verbündeten vom ersten Tag dieses Krieges an eine große Korruptionsmaschine von Warlords und Politikern geschmiert.
Doch von einer Einsicht, was das Versagen in Afghanistan betrifft, sind die tonangebenden Vertreter:innen der politischen Klasse und ihre Berater in Berlin weit entfernt. Weil der Einsatz der Bundeswehr stets von einer großen parteiübergreifenden parlamentarischen Allianz abgesegnet wurde – Union, FDP, eine Mehrheit von SPD und Grünen –, bleibt die selbstkritische Debatte über die Frage aus, ob dieser Krieg überhaupt notwendig und zu rechtfertigen war. Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, warnt stattdessen davor, »das Kind mit dem Bade auszuschütten« und von vornherein jede militärische Intervention zu verurteilen. Dabei ist es längst an der Zeit, die Interventionsdoktrin, die seit 2001 unter dem wohlklingenden Titel »responsablility to protect«[5] vermarktet wird, endgültig zu beerdigen und als das zu brandmarken, was sie von Anfang an war: ein neokoloniales Projekt.
Während die Bundeswehr im Gefolge der US-Truppen das zentralasiatische Land fluchtartig verlassen hat, schickt die Bundesregierung bereits Soldaten in die nächste zum Scheitern verurteilte Mission Minusma in Mali. Dort sollen im Namen der Stabilität die unzähligen Migrationsrouten durch die Sahara ausgetrocknet werden, die seit der Blütezeit der westafrikanischen Königreiche vor 500 Jahren bestehen. Auch in Mali ist die Lage unübersichtlich, der Gegner kaum greifbar und die Zustimmung der Bevölkerung vor Ort gering. Schlimmer noch: In diesem afrikanischen Land werden Truppen ausgebildet, die von einer demokratisch nicht legitimierten Putschregierung kontrolliert werden, während Islamisten ihren Einfluss ausdehnen. Ein afrikanisches Afghanistan ist absehbar.
»Nichts ist gut in Afghanistan. (…) Ich bin nicht naiv. Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen. Das kann manchmal mehr bewirken als alles abgeklärte Einstimmen in den vermeintlich so pragmatischen Ruf zu den Waffen«, sagte Margot Käßmann, ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, im Jahr 2010. Zu Recht forderte sie: »Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen«. Eine Debatte über eine zivile, soziale und wirtschaftliche Bewältigung globaler Konflikte – und ihrer Ursachen – wäre ein Anfang.
Dies gilt 2021 umso mehr. Es ist zu hoffen, dass die Wähler:innen verstehen: Wenn die Menschheit friedlich zusammenleben soll, ist eine Politik gefordert, die auf Abrüstung, Entspannung und Dialog setzt, statt auf Aufrüstung und Abschreckung. Der Rüstungsirrsinn muss ein Ende haben und jegliche nicht vom Völkerrecht abgedeckte militärische Einmischung in Krisengebiete muss beendet werden. Deshalb ist es notwendig, am 26. September den außenpolitischen Hasardeuren in allen Parteien, die auf militärisches Hochrüsten, Waffengewalt und Auslandseinätze der Bundeswehr setzen, eine Abfuhr zu erteilen.
»Weichen für eine sichere und friedliche Zukunft stellen! Abrüstung und Entspannung wählen!« steht daher zu Recht als Motto über dem Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbunds zum Antikriegstag 2021.
Anmerkungen
[1] Die Bundeswehr beteiligt sich seit 1992 an Auslandseinsätzen. Seitdem sind 114 deutsche Soldaten dabei ums Leben gekommen. Der bislang höchste Blutzoll war in Afghanistan zu beklagen: 59 deutsche Soldaten ließen dort ihr Leben, davon fielen 35 durch Fremdeinwirkung.
[2] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Heike Hänsel, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/28361. Berlin, 12.4.2021.
[3] Laut dem »Costs of War Project« sind bis Mitte April 2021 in Afghanistan und in den angrenzenden Gebieten Pakistans, auf die der Krieg übergegriffen hat, rund 241.000 Menschen zu Tode gekommen, darunter rund 71.300 Zivilisten und ungefähr 69.000 afghanische Soldaten und Polizisten. Das Projekt listet zudem 2.442 getötete US-Soldaten, 1.144 Militärs verbündeter Streitkräfte sowie beinahe 4.000 umgekommene US-Söldner inklusive weiterem Security-Personal auf (GFP, 1.7.2021).
[4] Friedrich Steinfeld: Selbstentzauberung des Westens. Das afghanische Debakel, Sozialismus.deAktuell, 21.8.2021.
[5] Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat im Fall Libyen erstmals das Prinzip von »Responsibility to Protect« (R2P) verfolgt. Dabei geht es um die Verantwortung der Weltgemeinschaft, für den Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu sorgen – notfalls mit Gewalt und gegen den Willen eines souveränen Staates. Heute ist Libyen ein klassisches Beispiel für einen gescheiterten Staat und ein Ort des Grauens – ein Land, in dem Migranten aus anderen Teilen Afrikas als Sklaven gehandelt werden.