Zwei Koalitionsverträge mit dem BSW: »Es ist die Brombeerzeit, die dunkle«
Was war das für ein Anfang. Zuerst wurde eine Partei gespalten, dann eine neue gegründet und die trug fortan den Namen ihrer Vorsitzenden. Ihr Bildnis strahlte den Wählenden in Thüringen ebenso wie zeitgleich in Brandenburg und Sachsen auf tausenden Plakaten entgegen; andere Köpfe dieser Partei blieben unsichtbar.
So viel Anfang sollte es nie gegeben haben, nie wieder geben. Die neue Partei, das »Bündnis Sahra Wagenknecht« (BSW), schien sich aufzumachen, die Politik des Landes umzukrempeln, komplett zu verändern. Die Rhetorik der Namensgeberin war gewaltig, wie immer.
Wagenknecht hatte sich mit den »Selbstgerechten« im linken Milieu angelegt, sie hatte die politischen Positionsbestimmungen »links« und »rechts« für überholt erklärt, sie wollte eine ganz neue Partei. Über allem schwebte das Wort »Gerechtigkeit«. Viele glaubten, sie meine eine neue bessere linke Kraft. Doch sie sprach schnell von einer »modernen konservativen Partei«. Was wollte sie, was will sie?
Am 1. September wurde in drei östlichen Bundesländern gewählt. In Thüringen erreichte BSW 15,8%, in Brandenburg 13,5% und in Sachsen 11%. Jubelstimmung. Sahra Wagenknecht ließ sich von den amtierenden, nun Koalitionäre suchenden Regierungschefs der drei Länder besuchen, nach den Aufwartungen begannen Koalitionserprobungen. In Sachsen platzte der Traum der frischen BSW-Abgeordneten, aber in Thüringen und in Brandenburg liegen nun die ersten beiden Koalitionsverträge unter Beteiligung von BSW vor.
Zeit also für eine kurze Überprüfung, was von den Ankündigungen der selbst ernannten Systemsprengerin Wagenknecht in der Praxis der gelebten Länderpolitik übriggeblieben ist. Ihre beiden Statthalter in Thüringen und Brandenburg jedenfalls neigen weder zu lauten Worten noch zu gewagten Gedanken.
Der ehemalige Arbeitsrichter Robert Crumbach war bis Anfang 2024 41 Jahre lang Mitglied der SPD und dürfte seinen Koalitionspartner Dietmar Woidke auch schon früher geduzt haben. Katja Wolf trat als 16-Jährtige 1990 in die PDS ein und war zwölf Jahre lang Oberbürgermeisterin im thüringischen Eisenach für die Linkspartei.
Weder Crumbach noch Wolf mögen sich von der – in ihrer Weise – selbstgerechten Wagenknecht reinreden lassen. Die aber hat mit den Koalitionsverträgen ihr Waterloo erlebt. Vielleicht wollte sie als Tigerin mit ihrem BSW zum Sprung ansetzen, sie endete aber als Bettvorlegerin, aus der Löwin wurde ein harmloses Kätzchen. So schnelle Entzauberung gab es noch nie.
Die Texte der beiden Koalitionsverträge sind sehr unterschiedlich. Der Thüringer Text ist weitschweifig, fast schon schwadronierend, knochenkonservativ, 126 Seiten lang. Der mit 67 Seiten nur etwa halbsolange Brandenburger Vertrag ist demgegenüber deutlich präziser, spricht mehr Themen an, atmet sozialdemokratischen Geist. BSW passt sich an beide Richtungen kätzchenhaft an – und verschwindet schon in den Koalitionsverträgen hinter ihren größeren Partnern.
Wochenlang erlebten wir ein Gezeter darüber, wie ein Koalitionsvertrag dem ewigen Frieden nahekommen könne, zumal dann, wenn auch noch CDU und SPD beteiligt sind. Im Thüringer Koalitionsvertrag heißt es nun, dass die drei Parteien der »Wille zum Frieden in Europa« eine und dass man die »Sorgen und Ängste«, dass Deutschland in den Krieg »mit hineingezogen« würde, ernst nähme. Irgendjemand in den Zentralen von CDU und SPD muss gerade geschlafen haben, als dem BSW immerhin dieser verbale Coup gelang: »CDU und SPD sehen sich in der Tradition von Westbindung und Ostpolitik. Das BSW steht für einen kompromisskosen Friedenskurs.« Wagenknecht und Ehemann Oskar werden zufrieden gewesen sein.
Aber dafür wird weiter hinten im Koalitionstext das Bekenntnis zu sämtlichen Bundeswehrstandorten im thüringischen Freistaat festgekloppt, samt notwendiger Modernisierung, versteht sich. »Wir stehen zur Aufgabe der Bundeswehr, Deutschland und seine Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu schützen. Wir stehen zu den Thüringer Standorten der Bundeswehr. Um ein zukunftsfähiger Standort für die Bundeswehr zu bleiben, wollen wir den Sanierungsstau beenden und notwendige Bauvorhaben schnellstmöglich umsetzen.« Helm ab zum Friedensgebet!
In Brandenburg macht man sich die Sache leichter. Man »sucht« eine diplomatische Lösung für die Ukraine. Und dann, ganz auf Scholz-Kurs: »Wir nehmen die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst, dass sich der Krieg ausweitet und damit das Risiko besteht, dass auch Deutschland in eine sich immer schneller drehende Kriegsspirale hineingezogen wird.« Der anschließende Satz lässt viele Interpretationen zu, ideal für einen Koalitionsvertrag: »Der Krieg wird nicht durch weitere Waffenlieferungen beendet werden können.«
Dafür gab es schnell Streit im Brandenburger BSW, weil einer der neuen Abgeordneten der Stationierung von Raketenabwehr-Systemen am Standort Schönwalde nicht zustimmen will; die anderen BSW-Abgeordneten schon. Fast schon lustig klingt diese Kompromissformel in Brandenburg: »Eine Nachwuchswerbung der Bundeswehr kann in der Unterrichtszeit, aber nicht im Unterricht stattfinden.«
Und die Mittelstreckenraketen? Da wird es in Thüringen besonders blumig. »Eine Stationierung und deren Verwendung ohne deutsche Mitsprache sehen wir kritisch.« Will sagen: Wenn das deutsche Parlament am Ende zustimmt, geht das auch in Ordnung. Und dann wird es volkspädagogisch: »Wir fördern eine breit angelegte Debatte.« – Fördern, nett gesagt. Reden kostet ja nichts. In Brandenburg klingt es ähnlich wie in Thüringen: »Wir sehen die geplante Stationierung von Mittelstrecken- und Hyperschallraketen auf deutschem Boden kritisch.« Kritisch heißt ja nicht unbedingt Nein.
Offenbar ist Thüringen ein ganz außergewöhnliches Land. In der Präambel kommen die Koalitionäre aus den verbalen Superlativen gar nicht mehr raus. »Thüringen ist ein Land der Freiheitsdenker und der Brückenbauer.« Höcke!? Natürlich kommt der Begriff »Rechtsextremismus« da nur ein einziges Mal vor, und das in engster Verbindung mit »Linksextremismus«, »religiösem Extremismus« und »Ausländerextremismus«. Das letzte Wort macht stutzig.
Neben dem islamischen Extremismus, der hier umschrieben wird, soll es noch einen besonderen Extremismus von Ausländern geben? Die Kölner Domplatte vielleicht? Oder die »illegalen Migranten«? Selbst die Verfassungsschutz-Behörden sind sich nicht einig, was damit gemeint ist, die Brombeer-Koalition schon. Da muss man die Brandenburger schon fast loben, dass sie keine Scheu vor dem Begriff des Rechtsradikalismus haben und tatsächlich Demokratieförderung betreiben wollen.
Diese Demokratieförderung endet aber in Brandenburg beim Geld. Man lehnt dort die Erhöhung der Rundfunkgebühren ab, nachdem man vorher ein paar Krokodilstränen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geweint hat. Mal sehen, was das Verfassungsgericht dazu sagen wird.
In Thüringen liebt man die deftige Sprache. In Sachen Immigration werden keine Gefangenen gemacht. Die Überschrift des entsprechenden Kapitels heißt: »Migration, Sicherheit und Justiz«. Der Asylbewerber in Thüringen darf sich nach der Lektüre des Koalitionsvertrags immer schon mit einem Bein im Knast fühlen. Es gehört schon Chuzpe dazu, die Migrantinnen und Migranten im Justiz-Kapitel enden zu lassen.
Wen wundert es da noch, dass Ausreisepflichtige keine »vollen Sozialleistungen« mehr bekommen sollen, die »Bezahlkarte« soll es sowieso geben, und Asylverfahren will man in Thüringen auch nicht haben, sondern an den »Außengrenzen«. Das Wort »Remigration« hat man sich verkniffen. Ausgerechnet in diesem Kapitel gibt es eine der sehr wenigen quantitativen Festlegungen der Koalition: 1.800 Polizisten sollen in den kommenden fünf Jahren neu eingestellt werden. Und Videoüberwachung wird verstärkt.
Auch in Brandenburg will man die Polizei verstärken. Dafür bekennt man sich immerhin noch (Stand November 2024) zum Asylrecht im Grundgesetz. Und anerkennt die Notwendigkeit von Immigration, auf die Thüringen wohl dank seiner schönen Landschaft verzichten möchte. »Wir stehen zum Grundrecht auf Asyl und bieten asylberechtigten Personen Schutz.« Für diesen Satz muss man schon fast dankbar sein.
Im brombeerigen Freistaat hat man sich in Sachen Bildung viel vorgenommen, Thüringen soll nun ein »führendes Bildungsland« werden. Vorbei die linken Zeiten von Gesamtschulen. Diese Koalition bekennt sich zum »gegliederten Schulsystem«, das eine »Lesen-Schreiben-Rechnen-Garantie« für die Beschulten abgeben will. Das liest sich in Brandenburg ähnlich, doch dort – immerhin – setzt man auf einen weiteren Ausbau von Gesamtschulen. Auch in Brandenburg ist der »Schulfrieden« des Bestehenden heilig. In Thüringen soll nicht mehr gegendert werden. »Betragen, Fleiß, Mitarbeit, Ordnung« werden wieder zu Kopfnoten. Und damit Leistung in Thüringen sich wieder lohnt, wird das Sitzenbleiben nach der 6. Klasse wieder eingeführt.
Immerhin sollen Horte kostenlos werden, ebenso wie das Mittagessen. In diesem Punkt wieder Übereinstimmung mit Brandenburg, übers Mittagessen muss man in Potsdam noch mal nachdenken. Rechts wie links hat man die Bedeutung kostenfreier Kita-Besuche erkannt.
Wagenknechts Sympathie für Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft aus den 1960er-Jahren ist bekannt. Und also wird im Kapitel »Wirtschaft, Arbeit und Energie« die »Entfesselung« der Wirtschaft und des Gründergeistes beschworen. Während auf der linken Seite des Parteienspektrums darüber diskutiert wird, dass öffentliche Aufträge nur an tarifgebundene Unternehmen gegeben werden sollen, hält man sich in Thüringen da vornehm zurück. Das wolle man »prüfen«.
Da ist man im sozialdemokratischen Brandenburg etwas weiter. »Die Koalition setzt sich aktiv für eine Steigerung der Tarifbindung und Gute Arbeit im Land ein.« Und man fordert in Potsdam eine »deutliche Anhebung des Mindestlohns«. Aber wer gedacht hätte, dass sich der Arbeitsrichter Crumbach für einen arbeitsfähigen Betriebsrat im Tesla-Werk von Elon Musk stark machen würde, der sieht sich geirrt.
In Thüringen hält die Koalition unerbittlich an der Schuldenbremse fest, allenfalls ein paar Lockerungen wolle man ins Auge fassen. Während Kanzler Scholz seinen Wahlkampf mit der Parole, es werden Butter »und« Kanonen geben, vorbereitet, bleibt die Brombeerkoalition im CDU-Fahrwasser beim »statt«: »Unsere Finanzpolitik setzt auf solide Finanzen, die den Anforderungen des demografischen Wandels gerecht werden. Umschichtungen im Haushalt und Priorisierungen von Ausgaben werden unverzichtbar.« Mal sehen, wo zuerst gekürzt wird. »Schuldenbremsen-konforme Finanzierungsmodelle« werden gesucht. Eierlegende Wollmilchsäue ebenfalls.
In Brandenburg verfolgt BSW einen anderen Kurs. Die Koalition will sich für die Abschaffung der Schuldenbremse einsetzen. Mal sehen, wie viele Thüringer Bürgermeister jetzt nach Brandenburg immigrieren.
Das Gesundheitssystem spielt in beiden Koalitionsverträgen eine wichtige Rolle. In Thüringen soll das »20-Minuten-Land« entstehen. Der Weg zum nächsten Arzt oder zur nächsten Apotheke soll nicht länger sein. Immerhin. Aber von einer Rekommunalisierung von Krankenhäusern findet sich kein Wort, auch kein Prüfungsauftrag. Stattdessen bekennen sich die Koalitionäre zur »Trägerpluralität«. Systemkritik sähe anders aus. Da ist selbst Karl Lauterbach Meilen voraus. Brandenburg will alle Krankenhäuser mit Zähnen und Klauen verteidigen, auch gegen Lauterbachs Willen. Dafür hat Woidke schon seine grüne Gesundheitsministerin entlassen. Und man denkt sogar über ein »Corona-Amnestiegesetz« nach.
Bleibt noch die Rente. Kann BSW da Punkte machen? Man wolle sich, so heißt es im Thüringer Vertrag, im Bund für geringere Rentensteuern einsetzen, und dann fällt das Wort von der »Thüringer Rente«, was keiner mehr versteht.
Im Wohnungs-Kapitel wird pflichtschuldig von mehr Sozialwohnungen gesprochen (»deutliche Erhöhung«), ohne dass Zahlen genannt werden. Eine Mietpreisbremse ist im tollen Thüringen wohl überflüssig. »Mieten sollen erschwinglich bleiben«, steht da zu lesen. Da man der »Eigenverantwortung der Wohnungswirtschaft« vollends traut, dürfte das auch klappen. In Brandenburg macht man weniger Worte, also auch weniger Versprechen. Ein klitzekleine Mietpreisbremse darf es schon sein, ansonsten vertraut mach auch hier auf die Kräfte des deutschen Mittelstands.
In der Umweltpolitik findet sich das Erwartbare. Man werde die Erneuerbaren ausbauen, aber »der moderne Verbrenner ist Spitzentechnologie, die weiterentwickelt werden muss.« Vom Verbrenner redet man in Potsdam nicht mehr, dafür aber etwas mehr von den Erneuerbaren Energien.
Im sonderbaren Kapitel »Kultur und Sport, Demokratie und Zusammenhalt« des Thüringer Koalitionsvertrages werden »NS-Verbrechen« und »SED-Unrecht« in einem Absatz abgehandelt. Ganz so einfach macht man es sich beim Thema Antisemitismus nicht. Da gibt es 29 Zeilen unter der Überschrift »Jüdisches Leben schützen – Antisemitismus bekämpfen & Toleranz fördern« und unmittelbar danach ganze 5 Zeilen unter dem kargen Titel »Muslimisches Leben in Thüringen – Kulturelle Wertschätzung«. Naja. Zur Information: In Thüringen leben ca. 700 Jüdinnen und Juden sowie ca. 8.000 Musliminnen und Muslime.
Die beiden unterschiedlichen Koalitionsverträge machen eines sehr klar: BSW hat weder in dem einen noch in dem anderen Fall deutliche Spuren in den Texten hinterlassen. Wieder einmal war das Getöse vorher lauter. Aber schon Helmut Kohl lehrte uns: Wichtig sei, was hinten rauskomme. Seine Nachfolgerin Angela Merkel formulierte die Binsenweisheit eleganter: Man müsse die Dinge vom Ende her denken. Ist das schon das Ende der BSW-Träume? Die Friedensformeln werden abgehakt und der Rest ist – je nach Bundesland – christdemokratische oder sozialdemokratische Alltagssuppe.
In Thüringen hat sich BSW mit diesem Koalitionsvertrag endgültig aus dem politischen Reform-Lager verabschiedet. Von substanziellen Neuerungen, von innovativen Gesetzesideen ist weit und breit keine Spur. Nicht einmal mehr linke Spurenelemente finden sich dort. Aber auch zum modernen Konservatismus hat es nicht gereicht. Altbacken bleibt all das.
In Brandenburg zeigt BSW seinen eigentlichen politischen Standort, als rechter Flügel der SPD. Auch dies: altbacken. Vielleicht ist es ja der »Seeheimer Kreis« innerhalb der SPD, den Wagenknecht und Lafontaine als Zielpunkt ihres »modernen Konservatismus« sehen. Dafür braucht man BSW aber nicht.
Die österreichische Lyrikerin Ingrid Puganigg veröffentlichte 1978 einen Gedichtband unter dem Titel »Es ist die Brombeerzeit, die dunkle«. Sie ahnte damals nicht, wie aktuell dieser Titel heute nicht nur für den Thüringer Koalitionsvertrag werden würde.
Torsten Teichert war von 1986 bis 1988 persönlicher Referent des Hamburger Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi, leitete sieben Jahre Hamburgs kulturelle Filmförderung und war von 2000 bis 2017 Vorstandsvorsitzender eines börsennotierten Finanzunternehmens sowie ab 2017 für eine Legislaturperiode Vizepräsident der Hamburger Handelskammer. Er war über 40 Jahre lang Mitglied in der SPD und lebt in Hamburg. Im VSA: Verlag veröffentlichte er im Frühjahr 2024 die Flugschrift Die Entzauberung eines Kanzlers. Über das Scheitern der Berliner Politik, 2021 zusammen mit Annett Nack das Buch »It’s the Future, Stupid« … mit oder ohne Kapitalismus.
aus: sozialismus, torsten teichert, 7.12.24